ABSTRACT
In the years around 1880 the concepts of modern culture studies were still
largely unknown. The term 'cross-culture experience' that is now part of the
standard vocabulary of today's human sciences had not yet been invented. And
yet the heyday of colonialism saw the publication of numerous texts that
analysed the experience of the strange and unfamiliar with remarkable
sensitivity. The German governess Ina von Binzer was twenty-four when she
left for a two-year visit to Brazil, where she worked with the family of a
wealthy coffee plantation owner. On her return to Germany she turned her
diary jottings into a fictionalised epistolary novel, describing in great
detail the domestic and social reality of the Segundo Império,
while also depicting the way in which the daily experience of otherness
gradually increased in intensity until it became a very real feeling of
culture shock. On the strength of its conscious struggle with the sense of
being different and alien, Binzer's work may be characterised as a 'culture
study avant la lettre'.
Keywords:Binzer; intercultural studies; identity;
epistolary novel.
Ich hatte die durchschnittliche hochmütige Vorstellung des Europäers oder Nordamerikaners von Brasilien [...]: irgend eine der südamerikanischen Republiken, die man nicht genau voneinander unterscheidet, mit heißem, ungesundem Klima, mit unruhigen politischen Verhältnissen und desolaten Finanzen, unordentlich verwaltet und nur in den Küstenstädten halbwegs zivilisiert.
Wer die deutschsprachige Literatur über Brasilien nur ein wenig kennt, wird die Quelle des obigen Zitates sofort erkannt haben. Es stammt aus dem Vorwort von Stefan Zweigs Monografie Brasilien. Ein Land der Zukunft, für deutschsprachige Brasilien-Reisende die Bibel schlechthin.
Als die 24jährige deutsche Schriftstellerin Ina von Binzer 1881 nach Brasilien übersiedelt, um dort als Privatlehrerin in verschiedenen Familien reicher Kaffeepflanzer zu arbeiten, kommt sie mit durchaus ähnlichen Vorurteilen wie Zweig in ihr Gastland. Dessen später so sehr geliebtes Rio de Janeiro, in ihrem Briefroman Leid und Freud einer Erzieherin in Brasilien[2] akribisch beschrieben, scheint ihre Erwartungen bestätigt: Lärmend, verschmutzt und unordentlich sei die Hauptstadt des noch amtierenden Kaisers Dom Pedro II., zudem sei sie voller „rauchender, spuckender Neger“ (S. 68). Natürlich hatten derlei bösartige Schmähungen zur Folge, dass Ina von Binzer bei manchen brasilianischen Lesern „anti-imperialistische Beißreflexe“ auslöste; bestätigte sie doch das noch immer verbreitete Stereotyp des überheblichen „europeu colonisador“. Vor wenigen Jahren etwa schrieb der Journalist J.M. Carvalho França in der Tageszeitung Folha de São Paulo, Ina von Binzer bekenne in ihrem Buch, „que o tumulto e o barulho da cidade do Rio de Janeiro tinham lhe causado péssima impressão e que esses e outros incômodos eram causados pela maciça presença negra nas ruas e lares cariocas“. Sie würde, so heißt es weiter, nicht die letzte Ausländerin bleiben, die dem hohen farbigen Bevölkerungsanteil Brasiliens „com mais ou menos simpatia“ begegne. Doch täte man der Autorin unrecht, wenn man sie übereilt auf eine voreingenommene Bürgerin des „primeiro mundo“ mit rassistischer Tendenz einschränken wollte. Die Briefe der Ulla von Eck, des fiktiven und zugleich autobiografischen Alter Ego Ina von Binzers, sind facettenreiche und lebendige Zeugnisse des täglichen Lebens im späten Kaiserreich Brasilien. Zudem spiegelt sich darin das komplexe Fremdheitserlebnis einer Ausländerin mit feinfühlig gezeichneten Konturen wider.[4] Freilich sind Ullas bzw. Inas Ausführungen von Kategorien bestimmt, die heute entweder verpönt oder anders definiert sind als im späten 19. Jahrhundert, etwa 'Nationalität' oder 'Rasse'. In ihren Grundzügen jedoch, dies lässt sich anhand der entsprechenden Darstellungen der kulturwissenschaftlichen Fremdheitsforschung ermitteln, hat sich die Erfahrung von Alterität wenig verändert. Es ist ohne weiteres möglich, im Fall Ulla von Ecks einen Kulturschock im Sinne Kalervo Obergs zu diagnostizieren. [5]
Mitte der 1990er Jahre entdeckte die Übersetzerin und
Literaturagentin Ray-Güde Mertin den Roman, der erstmals 1887 im Berliner
Verlag Richard Eckstein Nachfolger erschienen war, in seiner Originalfassung
wieder. Sie erkannte darin ein kostbares Kleinod der deutsch-brasilianischen
Kulturgeschichte und fügte das Textkorpus mit der portugiesischen
Übersetzung von Alice Rossi und Luisita da Gama Cerqueira zu einem Band
zusammen. So entstand eine zweisprachige Ausgabe, die 1994 von den Verlagen
Teo Ferrer de Mesquita in Frankfurt am Main und Paz e Terra in São Paulo
publiziert wurde. Überdies ist in Brasilien ist nach wie vor die
portugiesische Fassung greifbar, die, ebenfalls von Paz e Terra, mehrfach neu
aufgelegt wurde, erstmals jedoch 1956 im Verlag der Zeitschrift
Anhembi in São Paulo erschien. Es kommt nicht von ungefähr, dass
ausgerechnet der Herausgeber dieses Periodikums, der Publizist Paulo Duarte,
Ina von Binzers Roman übersetzen ließ und veröffentlichte. In der späten
Ära Getúlio Vargas hatte er sich das Ziel gesetzt, durch Anhembi für einen
stärkeren geistigen und kulturellen Austausch zwischen Brasilien und dem
Ausland zu sorgen. Seine weltoffene Haltung verpflichtete ihn, Binzer gegen
die schweren Vorwürfe in Schutz zu nehmen, die Yan de Almeida Prado in
seinen einführenden Worten zur Übersetzung gegen sie erhob. Sie sei nicht
die „alemã soberba, presunçosa e tirânica“, nicht die „inimiga do
Brasil“[6] gewesen, die Almeida Prado,
Historiker und Mitwirkender der berühmten Semana de Arte Moderna
(1922), in ihr gesehen habe[7]. Stattdessen
wirbt Paulo Duarte um Verständnis für das zuweilen allzu harte Urteil
Binzers über die Brasilianer, das durch ihre besondere psychologische
Situation als Ausländerin bedingt sei:
As suas atitudes contra o Brasil explicam-se pela
psicologia de um expatriado, sempre a mesma, no tempo e no espaço. Há uma
perene prevenção no julgamento dos usos e costumes estranhos e até uma
instintiva hostilidade contra o país que abriga o refugiado ou o simples
imigrante.[8]
Man kann den Herausgeber der portugiesischen Erstausgabe von Binzers Roman für so viel luzide Einsicht nur bewundern: Jahrzehnte bevor der cultural turn einen einschneidenden Paradigmenwechsel in den Literaturwissenschaften herbeiführen sollte, argumentiert Paulo Duarte im Grunde bereits mit Kategorien der heutigen Fremdheitsforschung.[9] Sein Gespür für Authentizität und Fiktion, deren verfließende Grenzen in den Briefen der Ulla von Eck in der Tat schwer festzustellen sind, scheint indessen weniger ausgeprägt. Es gelang ihm, einige der Familien, in denen Binzer als Erzieherin beschäftigt war, ausfindig zu machen. Doch rechtfertigt dies nicht die selbstverständliche Annahme, dass beispielsweise die Liebesgeschichte mit dem geheimnisvollen Briten Mister Hall, mit dem sich Ulla schließlich verlobt, ebenfalls dem Bereich des Biografischen angehöre.[10]
Für die Zielsetzung meiner Studie ist die Frage nach Dichtung und Wahrheit allerdings kaum von Bedeutung. Was Ina von Binzer ihre Briefschreiberin über das Brasilien des späten Segundo Império sagen lässt, ist insofern real, als es zum zeitgenössischen Diskurs gehört. Ohne zu erläutern, welche Familien und fazendas sich hinter den fiktiven Namen im Roman verbergen, wird im Folgenden kurz Ullas Weg durch mehrere Arbeitsverhältnisse nachgezeichnet. Dies dient der leichteren Orientierung im Primärtext, wenn später kreuz und quer auf verschiedene Situationen im Handlungsverlauf verwiesen wird.
Mit einem Schiff aus Antwerpen kommt die Protagonistin im Mai 1881 in Rio de Janeiro an und setzt dort ihre Reise mit der Eisenbahn in eine kleinere, niemals namentlich genannte Stadt in der Provinz von Rio fort.[11] Die Kutschenfahrt bis zur Fazenda de São Francisco ist das Ereignis, mit dem die Erzählung ihres ersten Briefes an Grete, ihre Freundin in Deutschland, einsetzt (Brief vom 27.5.1881). Sie bleibt ein gutes halbes Jahr in diesem Dienstverhältnis und versendet von dort aus elf der insgesamt 40 Briefe. 53 der insgesamt 169 Seiten, die der deutsche Originaltext in der zitierten Ausgabe umfasst, entfallen auf diese erste Episode. Unterbrochen wird der Aufenthalt in São Francisco durch eine Reise nach Minas Gerais in der zweiten Augusthälfte, von der sie Grete rückblickend berichtet (1.9.1881).
Im November befällt sie „[e]in abscheuliches Sumpffieber“ (S. 57), woraufhin sie einen Arzt in Rio de Janeiro aufsucht, der sie wegen ihrer „von Arbeit, Lärm und neuralgischen Schmerzen zerquälten Nerven“ (S. 60) prompt zur Kur nach Petrópolis schickt. Sie verbringt dort den Monat Januar, nicht ohne vorher ihre Habseligkeiten aus São Francisco abzuholen, nachdem ihr das ärztliche Attest den willkommenen Kündigungsgrund geliefert hat; danach besichtigt sie die Residenzstadt Rio mit bildungsbürgerlicher Gewissenhaftigkeit (8.2.1882) und nimmt Mitte Februar die Arbeit in einer Schule für höhere Töchter auf. Zufrieden ist sie in dieser Stellung aber erst recht nicht, so dass sie durch Vermittlung des deutschen Konsulats bereits Anfang März nach São Paulo wechselt. Aus Rio schickt sie nur fünf Briefe, die allerdings durch besonders interessante Inhalte hervorstechen: die akribische Stadtbeschreibung (8.2.1882), das Versagen der preußischen Disziplinierungsmethoden in der Schulstunde (12. und 21.2.1882) sowie das Erlebnis des Carnaval, das sich mit einem Zahnarztbesuch zu einer skurrilen Episode fügt (17.2.1882).
In São Paulo wird sie erneut als Privatlehrerin einer reichen Familie tätig, dieses Mal im republikanischen Milieu des brasilianischen Kaiserreichs. Die ungezogenen Söhne des Herrn Costa stellen sie vor schwierige Aufgaben, dennoch fühlt sie sich in der deutschen Gemeinschaft der Metropole erstmals integriert. So ist es in diesem Fall nicht einmal ihre eigene Schuld, dass das Arbeitsverhältnis ebenso abrupt endet wie die beiden vorherigen. Vielmehr beschließt der Republikaner Costa, seine missratenen Sprösslinge ins Internat zu stecken, als sie bei einem ihrer Streiche den Bogen überspannen. Die acht Briefe aus São Paulo umfassen gute 30 Buchseiten und decken etwa vier Monate Handlungszeit ab.
Ullas erster Brief von der fazenda São Sebastião – sie nimmt erneut eine Stellung in der Familie eines Kaffeepflanzers an – trägt das Datum des 11. Juli 1882. Anders als die negative Erfahrung in São Francisco erwarten lässt, stellt sich dieser finale Abschnitt von Ullas Leben in Brasilien als der glücklichste heraus. Dies ist zum einen durch ihr gutes Verhältnis zu ihren Arbeitgebern und Zöglingen begründet, zum anderen durch ihre wiederholten (zufälligen oder geplanten) Treffen mit dem britischen Ingenieur Robert Hall, mit dem sie sich am Schluss der Romanhandlung, im Januar 1883, verlobt. Die 15 Briefe aus São Francisco und der Hafenstadt Santos, wo die Familie de Souza den Sommer in ihrem Strandhaus verbringt, nehmen 57 Seiten ein.
Auf den folgenden Seiten soll der Versuch entstehen, Ina
von Binzers vor allem in Brasilien durchaus rezipierten Briefroman aus einem
bislang vermutlich noch nicht erprobten Blickwinkel zu betrachten. Das Werk
– es wird aufgrund seines autobiografischen Charakters nicht selten als
authentisches Zeugnis gelesen – hat in den letzten Jahren vor allem das
Interesse von Soziologen und Historikern sowie von Erziehungswissenschaftlern
hervorgerufen. Dies hat zwei naheliegende Gründe: Zum einen schafft Ina von
Binzer eine plastische Schilderung, wie die Sklavenbefreiung im späten
brasilianischen Kaiserreich vonstatten ging, wobei sie uns mit treffenden
Prognosen der problematischen Folgen dieses gesellschaftlichen Wandels
überrascht. Die Autorin lässt zum anderen ihre Ich-Erzählerin nicht ohne
Ironie darüber klagen, wie sie sich mit preußisch-protestantischen
Erziehungsmethoden an ihren brasilianischen Zöglingen sämtliche Zähne
ausbeißt, was natürlich die Aufmerksamkeit der Pädagogen auf den Roman
gelenkt hat[12]. Der letztere
Versuch, die fiktiven Briefe der Ulla von Eck als kulturkomparatistischen
Quellentext zu verwerten, kommt der Zielsetzung meiner eigenen Studie relativ
nahe. Ich konzentriere mich jedoch nicht auf das Geschehen in den Schulstuben
oder sonst einen bestimmten Teilbereich der brasilianischen Alltagswelt der
1880er Jahre, der durch den fremden Blick der deutschen Beobachterin
gebrochen wird. Vielmehr möchte ich auf der Grundlage von
kulturwissenschaftlichen und mentalitätengeschichtlichen Konzepten zeigen,
wie sich das Verhältnis eines Ausländers zu seiner fremden Umgebung
verändert und entwickelt.[13]
Die Autorin setzt sich zwar differenziert und sachlich mit ganz verschiedenen
Aspekten ihres Umfeldes auseinander, scheint jedoch immer das übergeordnete
Ziel zu verfolgen, der Opposition von Identität und Alterität deutliche
Konturen zu geben.[14] Der
bekenntnishafte Briefroman zeichnet die wechselhafte Entwicklung eines
Bewusstseins nach, das sich Fremdes aneignet, während ihm Eigenes fremd
wird. Dieser Prozess kommt um so stärker zur Geltung, als Ulla von Eck
offenbar ganz genau weiß, was sie zu den Merkmalen ihrer deutschen
Identität rechnet und was nicht. Bereits in ihrem dritten Brief aus
Brasilien in die Heimat, sie ist erst wenige Wochen auf der fazenda des
Doutor Rameiro in der Provinz von Rio de Janeiro angestellt, beschreibt sie
ihrer Freundin Grete den Garten der Hausherrin als „Zauberland voll
Märchenherrlichkeit“ (S. 22). Sie vertieft sich dabei sehr in botanische
Details, lässt aber keinen Zweifel, dass sie die Vielfalt der tropischen
Fauna nicht um ihrer selbst willen thematisiert. Letztlich nutzt sie das
unvertraute Ambiente, um eine Allegorie ihres eigenen Fremdheitserlebnisses
zu schaffen. Ihren Gesamteindruck von Brasilien verdichtet sie in der
Beschreibung des Ziergartens der Madame Rameiro zu einem einzigen Bild:
Ich war zuerst ganz berauscht, Grete, und trank all das
Zauberische, Schöne, Fremdartige förmlich mit allen Sinnen ein... aber,
wunderbar – weißt du, welcher Eindruck hiervon für mich der nachhaltigste
ist? Der des Fremdartigen, ja des absolut Fremden! Ich staune sie an, all
diese südliche Pracht; ich bewundere sie, sie berauscht mich momentan mit
ihrem verführerischen Zauber – aber ich verstehe sie nicht; ich kann mir
nichts mit diesen prächtigen Pflanzen erzählen, ich kenne sie nicht, und
die kennen mich nicht. (S. 22-23)
Zumindest in diesem frühen Stadium ihres Brasilienaufenthaltes liegt ihrer Auseinandersetzung mit dem „absolut Fremden“ ein klares Denkschema zugrunde: Sie bewertet die Alterität des ausländischen Umfeldes nicht notwendig als schlecht, gelegentlich sogar als ausgesprochen schön, ordnet sie dem Vertrauten aber prinzipiell unter. Der Mangobaum der Rameiros scheint ihr den Eichenbaum aus Heines Gedicht In der Fremde (Teil III) nicht hinreichend zu ersetzen, so dass sie empathisches Verständnis für das Heimweh des Schweizer Lyrikers Dranmor entwickelt, den sie als Brasilienreisende zu ihrem literarischen Paten erhoben hat: „Ich gäbe diese ganze Herrlichkeit – für eine einz'ge schneebehang'ne Tanne“ (S. 23).[15]
Ullas „Mangobaum-Erlebnis“ ist derart artifiziell und konstruiert, dass es jeden Anspruch auf Authentizität bereitwillig preiszugeben scheint. Von den mimetischen Darstellungen des bürgerlichen Alltags, die großenteils die Substanz des Briefromans bilden, hebt es sich kontrastiv ab. Es ermöglicht Ina von Binzer jedoch, Ullas nationales Selbstbild darzustellen, wonach sie, wie Deutsche ganz im Allgemeinen, ein tiefempfindender, heimatverbundener Mensch sei. So betrachtet sie sich nicht nur auf der abgelegenen fazenda der Rameiros als „die traditionelle einzig fühlende Brust“ (S. 57), sondern ebenso in Rio de Janeiro, wo sie die Weihnachtstage des Jahres 1881 alleine verbringt, um den Dienst in der Familie des Kaffeepflanzers sofort danach gänzlich zu quittieren. Aus Rio schreibt sie an Grete: „So stelle Dir Deine Ulla nachträglich am heiligen Abend in einem einsamen Hotelzimmer vor, an Euch Lieben in der Heimat denkend und sich unbeschreiblich nach Euch und unserem schönen, lieben Deutschland sehnend!“ (S. 58) Vor dem Hintergrund dieses Selbstbildes ist es nur logisch, dass sie den für beide Seiten schmerzlosen Abschied von den Rameiros auf die mutmaßliche emotionale Oberflächlichkeit der Brasilianer zurückführt, die der eigenen Seelentiefe kontrastiv gegenübersteht: „[M]an wird eben nicht warm mit den Menschen hier!“ (S. 62)
Auf der Grundlage der Alterität, die Ulla im Verhalten der Brasilianer vorfindet oder wenigstens vorzufinden meint, definiert sie ihre eigene Identität als Deutsche. Auf den ersten Blick scheint ihr Bedürfnis, ihr nationales Selbstverständnis fortwährend zu bestätigen und zu konsolidieren, unnötig oder sogar paradox: Wer Nationalität als feste, unhintergehbare Größe betrachtet, was Ulla alias Ina zweifellos tut, der muss sich ihrer nicht stets und ständig vergewissern. Das dialektische Vorgehen, im ständigen Wechsel das Eigene vom Fremden und das Fremde vom Eigenen abzuleiten, lässt sich bei genauem Hinsehen als Symptomatik tiefer innerer Verunsicherung interpretieren. Offenbar vermag das Eintauchen in das brasilianische Milieu das Selbstverständnis der wilhelminischen Preußin Binzer dermaßen zu zerrütten, dass sie sich genötigt fühlt, es unter der fiktiven Maske der Ulla von Eck neu zu bestimmen. Die Briefe zeichnen daher einen komplexen und nicht selten schmerzhaften psychischen Prozess ab, der sich großenteils unbewusst vollzieht und von häufigen Rückschritten gekennzeichnet ist. In dessen Verlauf streift die Protagonistin bestimmte, der Identität bislang zugehörige Merkmale ab, während sie andere, der Identität bislang fremde Merkmale annimmt. Der Begriff `Nationalität´ – hier nicht als Synonym des nüchternen Terminus `Staatsbürgerschaft´ begriffen, sondern als Summe der gemeinsamen Merkmale der Zugehörigen eines Volkes – erweist sich dadurch als dynamisches, elastisches Konzept. Implizit gewinnt in Ina von Binzers Briefroman damit ein modernes Denken Konturen, das in scharfem Widerspruch zum staatspolitischen Diskurs des ausgehenden 19. Jahrhunderts steht. Sicher: Sie nimmt an ebendiesem Diskurs teil, indem sie etwa einen jungen Franzosen den Vorstellungen der Zeit gemäß als „Erbfeind“ (vgl. S. 63) bezeichnet. Dass sich dieses Denken jedoch selbst auszuhöhlen scheint, macht ihren Text für eine Studie zur Interkulturalität interessant.
2.1 Alterität durch Nationalität
Die Briefschreiberin Ulla von Eck reflektiert intensiv über das Verhältnis der wechselseitigen Fremdheit zwischen ihr und den Brasilianern in ihrem Umfeld. Primär schildert sie, inwiefern ihr die Einwohner ihres Gastlandes fremd erscheinen; darüber hinaus spiegelt ihre Narration wider, in welcher Weise sie selbst als andersartig wahrgenommen wird. Gerade die Erlebnisse der zweiten Art lassen bei ihr gelegentlich das Gefühl der Demütigung zurück, das in der Folge zu missgünstigen Urteilen über die Einheimischen führt. Ihr Verhalten entspricht somit einem Muster, das charakteristisch für Menschen ist, die sich mittel- oder längerfristig in fremdem Umfeld bewegen: Wenn sich Ulla verächtlich über Brasilianer äußert, geschieht dies nicht notwendig aus der potenziellen Überheblichkeit des Europäers im ehemaligen Kolonialgebiet heraus. Stattdessen ist es ihre Methode, eine reale oder vermeintliche Benachteiligung zu kompensieren.
Vor allem während ihrer Aufenthalte in Rio de Janeiro und
São Paulo, wo sie stärker in das brasilianische Sozialleben eingebunden ist
als auf den fazendas, beklagt sie sich mehrere Male bei Grete, dass
sie wegen ihrer deutschen Nationalität ausgegrenzt oder diskriminiert werde.
Verärgert schreibt sie der Freundin etwa aus dem Pensionat von Rio
(12.2.1882), ihre französische Kollegin habe ihr hinterbracht, sie verdanke
ihre relative Beliebtheit bei den Schülerinnen der Tatsache, dass sie gute
Toilette mache und besser als andere deutsche Lehrerinnen aussehe. Zwar
spricht sie die Kinder von jeder Schuld frei, weil sie nur nachplapperten,
was sie bei ihren Eltern hörten, macht den erwachsenen Brasilianern jedoch
Vorwürfe – zumal sie den despektierlichen Kommentar einer Zöglingsmutter
aufschnappt:
[...] wie sollte von Kindern Rücksicht zu erwarten sein,
wenn sich Erwachsene ähnlicher Taktlosigkeiten nicht schämen. Heute morgen
ging Madame [i.e. die Schulleiterin] mit einer brasilianischen Dame und
Zöglingsmutter durch das Musikzimmer, und die Brasilianerin sagte ganz laut
auf Portugiesisch: „Ist sie eine Deutsche? Ah, sie hat gar nicht den
deutschen Typ und ist auch sehr gut angezogen!“ (S. 75)
Sie schiebt gleich noch einen zweiten Bericht hinterher, der von einem Besuch bei einem Friseur handelt, wo der „Jüngling mit der Tollschere“ (S. 75) nicht glauben möchte, dass sie Deutsche ist. Auf Ullas erstaunte Frage, warum ihm dies so sonderbar erscheine, antwortet er auf französisch: „Ah bah, [...] ça se connait; les allemandes sont toujours malvetues et n´ont pas de chic.“ (S. 75)
Ulla von Eck nimmt indigniert zur Kenntnis, dass unter den Brasilianern das Stereotyp von der mangelnden Eleganz deutscher Frauen verbreitet ist, fragt aber nicht nach dessen Ursache. Dabei ist sie des Rätsels Lösung durchaus nahe gekommen, als sie vier Wochen vorher aus Petrópolis über die deutsch-brasilianischen Einwohner der Stadt in der Provinz von Rio schreibt, sie seien „fast alle ganz ungebildete Bauern“, die größtenteils „ein Kauderwelsch von Neger-Portugiesisch und Plattdeutsch“ (S. 66) sprächen. Unbewusst reproduziert sie damit das negative Fremdbild der alemães batatas, das in der Gesellschaft des späten Kaiserreichs verbreitet war. Dessen Ursprung ist leicht zu erklären: Die deutsche Einwanderung im 19. Jahrhundert führte einen großen Strom Angehöriger des vierten Standes, d.h. Bauern und Handwerker, aber kaum Angehörige der bürgerlichen Schicht nach Südamerika. Gerade in Brasilien integrierten sich diese Immigranten nur mangelhaft in die sozialen Strukturen, was teils auf ihre eigene Wünsche, teils auf die Politik des Segundo Império zurückzuführen ist. Denn einerseits wurden deutsche und andere Einwanderer in weitgehend geschlossenen 'Kolonien' sich selbst überlassen, um bislang unkultiviertes Land zu bewirtschaften, andererseits lockte gerade die Aussicht auf „deutsche Verhältnisse im Ausland“ viele deutsche Auswanderer nach Brasilien.[17] Da sie in die Gesellschaft des Landes nicht eingegliedert werden sollten und es oft auch gar nicht wollten, bildeten die „colonos alemães“ bald isolierte, bäuerliche Randgruppen, die von der eingesessenen Bevölkerung mit den entsprechenden Vorurteilen betrachtet wurden.
Ulla von Eck – oder besser Ina von Binzer, die unter der Maske der fiktionalisierten Briefschreiberin ihr Fremdheitserlebnis verarbeitet – geht dem Ursprung dieses Vorurteils nicht auf den Grund. Stattdessen nimmt sie vor und nach der Demütigungen in Rio eine den Brasilianern gegenüber distanzierte Haltung ein. Sie bewertet sie, verglichen mit ihren Landsleuten, immer wieder als unterlegen. Mit unverhohlener Bosheit lästert sie in ihrem Bericht über die Reise nach São João del Rei in Minas Gerais über die Soldaten, die für den Empfang des Kaisers exerzieren. Offensichtlich bleiben sie weit hinter ihren preußischen Ansprüchen zurück: „[...] ein Piquet Soldaten [wurde] vor der Tür in mir unverständlichen Kommandos von einem Korporal angeschrien und vollführte ein 'Rechtsum', das mich wieder in die beste Laune versetzte. Gretele, da machen´s unsere rekrutesten Rekruten besser!“ (1.9.1881/S. 46) Ebenso gnadenlos verreißt sie den festlichen Ornat der Kleinstadt, der, wäre er von Deutschen angefertigt worden, nach ihrem Dafürhalten viel ästhetischer ausgefallen wäre: „Ich war ganz erstaunt über so viel Geschmacklosigkeit und Ungeschick! Was hätten wir nicht in unserem Deutschland allein schon mit diesem Reichtum an natürlichem Schmuck zu machen gewusst, über den Brasilien verfügt!“ (S. 44) Natürlich bleibt auch die Festtagsgarderobe der brasilianischen Damenwelt nicht von ihrer beißenden Kritik verschont. Unterm Strich brandmarkt sie all das, was besonders schön sein soll, als besonders hässlich.
Der Staatsakt in Minas Gerais liefert Ulla ausreichend
Gelegenheit, die Brasilianer und ihr Verhalten als „pomphaft“ zu
beschreiben (vgl. S. 44 und S. 46); eines ihrer bevorzugten Adjektive, das
sie fast immer heranzieht, wenn sie ihrem Missfallen Luft machen will. Auf
diese Weise öffnet sie eine hypothetische Kluft zwischen ihr selbst als
tiefgründigem Gemüt und der allgemeinen Oberflächlichkeit des fremden
Umfeldes. In zahlreichen Beobachtungen sieht sie Belege, dass die Brasilianer
tatsächlich so sehr zum „Pomphaften“ tendieren, wie sie behauptet: im
majestätischen Namen ihrer Sklavin Olympia auf der fazenda São
Francisco (vgl. S. 6-7), im allgemeinen Gefallen am „pomphaften Knall des
Feuerwerks und seinem momentanen Scheinen und Blenden“ (S. 109), erst recht
natürlich im rhetorisch aufgebauschten Sprachgestus der Brasilianer, hinter
dem sich hohles Scheinwissen verberge:
Zu Advokaten passen die Brasilianer insofern
ausgezeichnet, als sie da ihr deklamatorisches Talent verwerten können.
[...] Alles ist äußerlich, alles Halbbildung und Geste. Dieses pomphafte
Phrasieren, dies hochtrabende Pathos ist an sich immer schon verdächtig und
komödiantenhaft, aber wenn Du wirklich einmal die Probe darauf machst und
die Leute nach etwas fragst, so können sie dir keine Rechenschaft geben. (S.
91)
All diese Beispiele zeigen, dass Binzer die Brasilianer und ihre Kultur nicht gerade mit Samthandschuhen anfasst. Bei ihren lateinamerikanischen Lesern der ersten Stunde, Yan de Almeida Preda und Paulo Duarte, ruft sie mit dergleichen Äußerungen die erwähnten gegensätzlichen Reaktionen hervor. Duarte schreibt in seinem Plädoyer für Binzer, sie habe richtig beobachtet, dass es häufig gerade denjenigen Brasilianern an Bildung fehle, von denen man solide Bildung erwarten möchte. Ihre Kritik, die bereits von vielen „brasileiros mais sensíveis ou se quiserem mais civilizados“ vorgebracht worden sei, scheint ihm daher berechtigt: „É a nossa velha simulação de cultura, firme aí ainda hoje em intelectuais de renome, e que a alemãzinha instruída estigmatizava já muito antes do fim do século XIX.”[18] Allerdings enthält er sich jedes Kommentars zu Binzers explizit geäußerter Ansicht, dass dieses Manko nur durch „deutschen Fleiß und Ernst, deutsche Ausdauer und Gewissenhaftigkeit“ (S. 92) behoben werden könne.
Von der Toleranz Paulo Duartes zeugt nicht nur, dass er die Kritik der Fremden an den eigenen Landsleuten akzeptiert, sondern vielleicht noch mehr, dass er ihr exzessives Nörgeln einfach ignoriert. Kaum erhält sie Zutritt zur Gesellschaft von São Paulo, spottet sie über portugiesische Familiennamen, die zwar klangvoll seien, aber banale Bedeutungen hätten. Namen wie Julieta Olympia Leite da Costa Pinto könne man nur bewundern, solange man nicht wisse, dass leite Milch, costa Küste und pinto Küken heiße. Hinzu kommt, dass sie sich erschreckend unsensibel gegenüber kulturellen Differenzen verhält, indem sie etwa die brasilianische Sitte abqualifiziert, erwachsene Menschen mit dem Vornamen anzusprechen. Dies verwirre ihren „Europäer-Verstand“ (S. 99), weil man niemals wisse, ob es sich bei einer Dona Fulana um eine Siebzehnjährige oder um eine betagte Dame handle; zudem liege „[i]n diesem Bevorzugen der Vornamen [...] eine gewisse Unzivilisiertheit“ (S. 99). Das Maximum der Zivilisiertheit hingegen, so suggeriert der Folgetext, bestehe in deutschen Titeln wie Frau Geheimrätin oder Frau Superintendent.
Insgesamt ist der Rückgriff auf das etablierte
Begriffsinventar des Kolonialismusdiskurses, der von der grundsätzlichen
Opposition von zivilisiertem Europa und unzivilisierter (Ex-)Kolonie ausgeht,
für Binzer aber nicht typisch. Gelegentliche Anklänge dürften der
psychischen Kompensation geschuldet sein. Es scheint das Ehrgefühl der
Protagonistin zu verletzen, dass sie, wenn schon nicht mit einem Titel, nicht
wenigstens mit Dona Ulla angesprochen wird. Ihrem Bericht zufolge
sieht die brasilianische Etikette des späten Kaiserreichs für ausländische
Erzieherinnen eine gesonderte Anrede vor, die Ulla als ausgrenzend und
diskriminierend empfindet:
Wir deutschen Erzieherinnen und wohl auch andere
Ausländerinnen werden in den Geschäften etc. gewöhnlich mit der Anrede
'Madamma' beglückt, ein schon für´s Ohr abscheulich hässliches Wort, das
aber noch unleidlicher erscheint, da man sich sagen muss, dass der
brasilianische Hochmut es eigens erfunden hat, um die estrangeiras (bitte,
sprich das immer mit der gehörigen Verachtung aus) von den Brasileiras zu
unterscheiden. (S. 100)
Man kann nicht mit letzter Sicherheit klären, ob der imperialistisch-kolonialistische Diskurs die Grundeinstellung Ina von Binzers essenziell widerspiegelt oder ob er lediglich für die Kompensation erlittener Kränkungen instrumentalisiert wird. Für die letztere, psychologische Interpretation sprechen zahlreiche Textstellen, die Ulla von Ecks Auseinandersetzung mit dem fremden Umfeld als schmerzhaften Reibungsprozess darstellen. Neben der deutschen Nationalität begründet die Briefschreiberin ihre Andersartigkeit noch mit drei weiteren Merkmalen ihrer Person: Sie betrachtet sich als Europäerin, Zugehörige der germanischen Rasse und Protestantin.
2.2 Alterität aufgrund des Kulturkreises
Am Anfang ihres Brasilien-Aufenthaltes wird Ulla von der Familie Rameiro zu einem Mittagessen auf eine benachbarte fazenda mitgenommen. Zum ersten Mal nimmt sie an einem sozialen Ereignis in ihrem Gastland teil und erstattet Grete darüber ausführlichen Bericht (20.6.1881). Nach Tisch unterhalten mehrere junge Damen, darunter auch sie selbst, die Gesellschaft mit ihrem Klavierspiel. Im Kontext der Auseinandersetzung mit dem Fremdheitserlebnis erscheint insbesondere ihre Kritik an einer Brasilianerin interessant, deren Vortrag aus dem Klavierauszug von Verdis Il trovatore sie ungeachtet seiner technischen Perfektion und der Begeisterung des übrigen Publikums als ausdruckslos abwertet. Als Grund für ihre abweichende Kunstauffassung benennt sie explizit den Unterschied zwischen germanischer und romanischer Rasse: „Ach Grete, bin ich denn so gar starr germanisch, daß ich diese Romanen mit dem besten Willen nicht interessant und geistreich finden kann!“ (S. 18) Da Rassenunterschiede im späten 19. Jahrhundert häufig als unverrückbar und unüberbrückbar akzeptiert werden, ist diese Äußerung keineswegs spektakulär. Doch führt Ulla noch einen weiteren Grund für ihr Urteil an, der im krassen Widerspruch zum ersten zu stehen scheint: Unter den Gästen befindet sich noch ein weiterer Ausländer, ein junger Architekt aus Italien, der das Klavierspiel der Brasilianerin ebenso wenig goutiert. Es ist völlig paradox, dass Ulla diese Übereinstimmung auf „unser gemeinsames Europäertum“ (S. 19) zurückführt – denn wer, wenn nicht der Italiener, wäre den Romanen zuzurechnen?
Neben ihrer Widersprüchlichkeit ist diese Argumentation auch insofern bemerkenswert, als Binzer das Kriterium „Europäertum“ weit weniger in den Vordergrund rückt als das Kriterium Rasse. Unter „Europäertum“ ließe sich eine Mentalität verstehen, die den Menschen des europäischen Kulturkreises über Ländergrenzen hinweg vielfach zueigen ist, d.h. eine Art zu werten und zu empfinden, die nicht alle Bürger der Alten Welt notwendig kennzeichnet, sie aber vielfach miteinander verbindet. Anders als die Determiniertheit durch das Kriterium der Rasse, die nach positivistischer Vorstellung angeboren und unabänderlich ist, setzt sich die Mentalität aus erlernten Merkmalen zusammen. Sie ist das Resultat einer gemeinsamen Prägung, kann daher mehr oder weniger ausgeprägt in Erscheinung treten und wenigstens teilweise modifiziert werden.
An einzelnen Stellen in Ullas Briefen scheint dieser Mentalitätsbegriff implizit Konturen zu gewinnen, obwohl er zur Entstehungszeit des Textes natürlich noch längst nicht existiert. So heißt es durchaus wertungsfrei, dass die Brasilianer tatsächlich so gastfreundlich seien, wie allgemein behauptet würde, man ihre Gastfreundlichkeit jedoch „nicht nach europäischen Begriffen beurteilen“ (S. 40) dürfe. „Masseneinladungen“ würden den Gastgeber daran hindern, sich um jeden Gast individuell zu kümmern, was in Brasilien nicht als mangelnde Rücksicht betrachtet werde. Man mag einwenden, Ina von Binzer äußere sich an dieser Stelle herablassend, indem sie die brasilianische Gastfreundlichkeit als gutgemeint, aber allzu oberflächlich bewerte. Zugleich muss man ihr jedoch den entschieden progressiven Gedanken zugute halten, dass ein heutiger kulturwissenschaftlicher Schlüsselbegriff, nämlich Gastfreundlichkeit, in unterschiedlichen Kulturkreisen unterschiedliche Bedeutungen annehmen kann.[19]
Damit ist eine Reflexion aus den inhaltlich reichen
Briefen aus Rio de Janeiro zu vergleichen, in dem Ulla der Freundin ihr Leid
über „die allzu große 'Höflichkeit' der Herrenwelt“ (S. 84) klagt. Sie
bezieht sich hier auf die unerwünschten Annäherungsversuche brasilianischer
Männer, denen alleinstehende Ausländerinnen in den Straßen der Hauptstadt
fortwährend ausgeliefert seien. Obwohl sie dergleichen Verhalten verurteilt,
weil die Situation der (nach zeitgenössischem Rollenverständnis)
schutzbedürftigen Frauen schamlos ausgenutzt werde, scheint sie dafür
Verständnis zu haben. Nach brasilianischer Sitte schicke es sich eben nicht,
dass Damen ohne Begleitung spazieren gingen:
Sie sind es von ihren Landsmänninnen nicht gewohnt, Damen
allein auf der Straße zu sehen, und wenn sie auch wissen, dass wir Fremden
diese Freiheit hier für uns in Anspruch nehmen müssen, so scheinen sie sich
doch berechtigt zu glauben, europäische Damen, wenn sie allein sind, mit
Anreden zu belästigen. (S. 84)
Das Zitat, dies sei hier als Randnotiz angemerkt, steht in kuriosem spiegelbildlichen Verhältnis zu einer Textstelle aus João Ubaldo Ribeiros Kolumne Sexy Berlin, nachzulesen in dem Band Ein Brasilianer in Berlin (1994). Darin erzählt eine brasilianische Freundin des Autors von ihrem ständigen Kampf gegen die Zudringlichkeit europäischer Verehrer, in deren Köpfen nun einmal feststehe, dass sie aus dem 'Land der Promiskuität' komme [20] Die Probleme des Fremdheitserlebnisses – Ribeiros Texte entsteht über 100 Jahre nach Binzers – sind eben zeitlos.
Ansonsten spielt der differenzierte Vergleich von
europäischer mit brasilianischer bzw. lateinamerikanischer Mentalität, der
Binzers Briefen eine noch stärkere Note als Kulturstudie avant la lettre
gegeben hätte, kaum eine Rolle in diesen Texten. Ulla definiert sich in
erster Linie als 'deutsch' und 'germanisch', klammert die Kategorie
'europäisch' also meistenteils aus dem interkulturellen Diskurs aus. Sie
verwendet sie hauptsächlich dann, wenn sie auf soziologische oder
wirtschaftliche Zusammenhänge zu sprechen kommt. Über die mangelnde Hygiene
in den Straßen von Rio de Janeiro schreibt sie etwa: „Der Brasilianer
bringt dieser Art von Unordnung eine gewisse kindliche Harmlosigkeit entgegen
[...], wir Europäer gewöhnen uns mit der Zeit wenn auch nicht an den
Schmutz, so doch daran, ihn von den anderen unbeachtet zu sehen.“ (S. 69)
Des Weiteren stellt sie fest, dass Brasilien trotz seines immensen Reichtums
an Rohstoffen wirtschaftlich von Europa abhängig geblieben ist:
Selbst die Kattunstoffe kommen dem Lande der Baumwolle aus
Deutschland und Frankreich, wohin sie das Rohmaterial liefern, das sie selbst
nur sehr mangelhaft in wenigen unbedeutenden Fabriken zu verarbeiten
verstehen; und wenn sie hier weißen Hutzucker essen wollen, so läßt ihn
sich das Land des Zuckerrohrs aus dem Lande der Runkelrübe kommen. Manche
Dinge sind hier wunderbar! (S. 69)
Möglicherweise mischt sich in ihr Erstaunen kolonialistische Genugtuung, weil die ehemalige Kolonie 60 Jahre nach der Trennung von der Kolonialmacht noch immer auf diese angewiesen ist. Häufig scheint es jedoch, dass Binzer das Kaiserreich Brasilien als genau das anerkennt, was es offiziell sein will: ein souveränes Imperium. Daher legt sie denselben kritischen Maßstab an, mit dem sie auch das wilhelminische Deutschland ihrer Zeit bewerten würde. Unter dieser Voraussetzung wären ihre negativen Urteile gerade nicht als Überheblichkeit zu interpretieren.
2.3 Alterität aufgrund der Rasse
Die heute so problematische Kategorie 'Rasse' ist in den Briefen der Ulla von Eck allgegenwärtig. Sie wird mit der größten Selbstverständlichkeit verwendet und niemals auf ein bestimmtes Definitionsmodell zurückgeführt. Dies ist keineswegs erstaunlich, denn der Begriff ist fester Bestandteil des philosophischen und sozialwissenschaftlichen Diskurses des 19. Jahrhunderts, wobei er unterschiedliche Bedeutungen annehmen kann. Innerhalb der positivistischen Ästhetik etwa argumentiert Hippolyte Taine, dass literarische Werke nicht der Ausdruck eines genialen Schöpfergeistes, sondern das Produkt der drei Kategorien race, milieu und moment seien. Mit race bezeichnet er in diesem Zusammenhang die Summe der kulturellen Voraussetzungen, die den Autor innerhalb seines nationalen Kollektivs beeinflussten. Der Siegeszug der Evolutionstheorie Charles Darwins hat zur Folge, dass sich in den Sozial- und Humanwissenschaften das biologistische Denken immer mehr durchsetzt. Deshalb wird Kultur als unmittelbares Produkt des mutmaßlich gemeinsamen Erbgutes einer Nation, eben der Rasse, begriffen wird.
Der Rassendiskurs verdichtet sich in den 1850er Jahren in Arthur de Gobineaus Essai sur l´inégalité des races humaines zu einer wichtigen Programmschrift.[21] Darin soll die These vom arischen Nordmenschen, der allen anderen Menschen genetisch überlegen sei, erstmals eine theoretische Grundlage erhalten. Das Werk ist nicht erst in jüngerer Zeit als pseudo-wissenschaftlich verpönt. Kaum ist es erschienen, äußert der renommierte Sprachhistoriker August Friedrich Pott bereits massive Zweifel an der Glaubwürdigkeit der historischen Fakten, die Gobineau den abenteuerlichen „Blutsvermischungen“ seiner „Völkerchemie“ zugrundelegt.[22] Das Werk erfährt jedoch breite Rezeption und übt langfristigen Einfluss auf verschiedene Diskursformationen aus, so auf die nationalsozialistische Rassentheorie. Allerdings geht der Antisemitismus Hitlers, zumindest in seiner theoretischen Ausformung, primär auf eine andere Quelle zurück: die Theorien des britischen Autors Houston Stewart Chamberlain, der seinerseits im Bayreuther Kreis Richard Wagners in den 1880er Jahren die Schriften Gobineaus kennen gelernt hatte. Zur Zeit von Ina von Binzers Brasilien-Aufenthalt ist der Konnex von Rassen- und Kulturbegriff über die Grenzen des wissenschaftlichen Diskurses hinaus längst zu einer populären Vorstellung geworden.
Es scheint vorteilhaft, die Briefe der Ulla von Eck vor diesem diskursiven Hintergrund zu situieren, auch wenn hier so textnah wie möglich argumentiert werden soll. Das ausgeprägte Rassendenken, das die Erzählerin übrigens mit ihrem heterogenen brasilianischen Umfeld teilt, bliebe heutigen Lesern sonst unverständlich. Als Weiße grenzt sie sich einerseits von den Schwarzen ab, zieht aber andererseits eine klare Trennungslinie zwischen den Brasilianern portugiesischer Herkunft und ihr selbst, der 'Germanin'. Die Differenzierung von den 'Romanen' erscheint in den Brieftexten ungleich problematischer, obwohl oder gerade weil sie sich von diesen weniger offensichtlich unterscheidet als von den Afrikanern. Ulla erlebt auf den fazendas von São Francisco und São Sebastião ein System der Leibeigenschaft, das noch funktionstüchtig ist, aber bereits in seinen letzten Zügen liegt. Zwar würde erst die Lei Áurea von 1888 die endgültige Freiheit der Sklaven garantieren, doch steht dieses Gesetz am Ende eines langwierigen gesellschaftspolitischen Prozesses in mehreren Etappen. Zeitlich liegt der Brasilien-Aufenthalt Ina von Binzers zwischen zwei der wichtigsten Meilensteine der Abolitionsgeschichte, nämlich der Lei do Ventre Livre von 1871 und der Lei dos Sexagenários von 1885, die neugeborene Sklavenkinder zu freien Menschen bzw. alle Sklaven über dem 60. Lebensjahr für frei erklärten.[23]
Das Segundo Império ist aufgrund der Abschaffung
der Sklaverei erheblichen innenpolitischen Spannungen ausgesetzt, die Ina von
Binzer genau erkennt und beschreibt. Sie selbst verurteilt die
Leibeigenschaft, weil sie ihr inhuman und unwürdig erscheint, betrachtet
Schwarze und Weiße deswegen aber keineswegs als gleichwertig. Für ihre
Zeitgenossen ist die Auffassung, dass alle Menschen die Freiheit verdienten,
aber dennoch höhere und niedrigere Rassen zu unterscheiden seien, durchaus
kein Widerspruch. Im Prinzip könnte man sogar von einer 'Gleichzeitigkeit
des Ungleichzeitigen' sprechen: Während die Sklavenwirtschaft Nord- und
Südamerikas im Verlauf des 19. Jahrhunderts zu Ende geht, die Schwarzen also
die Freiheit erlangen, gewinnt der Rassendiskurs weltweit immer mehr Boden.
Diese Zerrissenheit kommt in den Briefen der Ulla von Eck an verschiedenen
Stellen zum Vorschein. So stellt Dr. Rameiro, gleichzeitig Abolitionist und
Sklavenhalter, den Schwarzen sein Haus zur Verfügung, damit sie ihre frei
geborenen Kinder taufen lassen. Ulla beobachtet die noble Geste mit großer
Sympathie, spricht jedoch bezüglich der Säuglinge von „plattnasigen,
wollköpfigen kleinen Scheußlichkeiten“(S.33).[24] In keiner Weise distanziert sie sich von der ebenso absurden
wie rassistischen Legende, mit der ihr die Brasilianer erklären, warum die
Handflächen und Fußsohlen der Afrikaner heller seien als deren übrige
Haut:
Sie sagen, als Ham nach Afrika ausgewandert sei, habe er
auf Befehl des Herrn mit Füßen und Handflächen das Wasser des Jordan
berührt, das dann vor ihm zurückgewichen sei; von dieser Berührung seien
bei ihm und seinen Nachkommen jene Stellen weiß geblieben, auch im
Sonnenbrand Afrikas. (S. 32-33)
Im Gegenteil: Ulla von Eck scheint die Ansicht ihres Umfeldes, dass Schwarz und Weiß nun einmal durch einen natürlichen Klassenunterschied getrennt seien, vollkommen zu teilen. Ihr wertendes Rassendenken kommt so selbstverständlich und unverhohlen zum Ausdruck, dass es dem heutigen Leser mit seiner Sensibilität für politische Inkorrektheiten gelegentlich den Atem verschlägt. Über ihren Ortswechsel von Rio de Janeiro nach São Paulo berichtet Ulla beispielsweise, sie habe trotz knapper Kasse in einem Abteil der ersten Klasse reisen müssen, „weil es in diesem Lande überhaupt nur zwei Eisenbahnklassen gibt, und in der zweiten nur der nigger aller Schattierungen fährt.“ (S. 87)
Auf den Rassendeterminismus rekurriert Ulla auch dann, wenn sie kulturelle Differenzen zwischen Brasilianern und Deutschen feststellt oder festzustellen meint. Sie betrachtet sämtliche Brasilianer aufgrund ihrer überwiegenden portugiesischen Herkunft und Sprache als 'Romanen', also denjenigen europäischen Völkern eng verbunden, deren Sprachen vom Lateinischen abstammen. Stellt sie etwa fest, dass deutsche Philosophen in den gebildeten Kreisen von São Paulo weniger gelesen werden als französische, so führt sie dies auf die stärkere rassische Übereinstimmung zurück. Die Brasilianer würden sich dessen intuitiv bewusst, „indem sie mit ihrem Herzen doch immer wieder den Franzosen und anderen romanischen Völkern zuneigen, wenn ihnen auch deutscher Geist oder englische Tatkraft mehr imponieren“ (S. 92). Ferner führt sie den „Rassenunterschied zwischen Germanen- und Romanentum“ (S. 73) als mögliche Ursache an, weshalb es den französischen Kolleginnen im colégio von Rio de Janeiro leichter fällt, den Schülerinnen ihre Sprache zu vermitteln oder sie zur Ordnung zu rufen. Zumindest was die didaktischen Schwierigkeiten angeht, würde es sich anbieten, die größeren strukturellen Differenzen zwischen dem Portugiesischen und dem Deutschen als Grund anzunehmen. Ulla von Eck argumentiert jedoch lieber mit dem gemeinsamen genetischen Erbgut der jeweiligen Rassen.
Genau wie einerseits Brasilianer und Franzosen, verbindet sie andererseits Deutsche, Briten und Angloamerikaner zu einem Konnex. Während sie sich von ihren eigenen Landsleuten im Verlauf ihres Auslandsaufenthaltes entfremdet (dies wird später genauer beleuchtet), entwickelt sie eine ausgeprägte Affinität zu den Angehörigen des angelsächsischen Kulturkreises. Wie üblich argumentiert sie auch in diesem Fall nicht mit mentalitätsgeschichtlichen, sondern mit rassischen Übereinstimmungen. Ihr sei „das ganze Wesen und Sein germanischer Volksstämme weit sympathischer als diese Romanen“ (S. 128), wobei sie mit den letzteren natürlich die Brasilianer meint. Als sie in São Sebastião nordamerikanische Pflanzer kennen lernt, bejubelt sie die Nähe von „ganz zivilisierten Menschen“ (S. 128), ein britisches Ehepaar in Rio de Janeiro bezeichnet sie als „sehr liebe Menschen“ (S. 61). Hinzu kommen Liebeserklärungen an die englische Sprache, die dem häufig kommentierten Portugiesischen durchweg verwehrt bleiben: „[...] schon beim Klange der englischen Sprache atmete ich auf“ (S. 128) oder „Du weißt ja, daß ich Englisch auch sehr liebe“ (S. 119). Dabei reflektiert sie durchaus, dass diese Affinität mit den gemeinsamen Bedingungen des Fremdseins zusammenhängt, sieht darin aber nicht die eigentliche Ursache.[25] Ganz im Gegenteil. Die angebliche Nähe von Deutschen und Angelsachsen dient ihr als Motiv, um die Kluft zwischen Deutschen und Brasilianern zu vertiefen: „Ach, Grete, so nett diese Souzas [i.e. die fazendeiros von São Sebastião] auch sind, fremd bleiben die Brasilianer einem doch, fremder sogar als alle anderen Fremden hier, die schon ein gewisses Gefühl der Zusammengehörigkeit als Gäste auf hiesigem Boden zusammenzieht.“ (S. 128) Der Rassengegensatz – denn Ulla weitet die Differenzen zur Opposition aus – führt zur Ziehung besonders akzentuierter Grenzen. So schreibt sie resümierend über die Brasilianer: „Sie gehören eben innerlich nicht zu uns.“ (S. 92)
Mister Hall hingegen scheint sehr wohl „innerlich zu uns zu gehören“. Ina von Binzer lässt ihre Erzählerin den englischen Ingenieur gleich nach ihrer Ankunft in São Paulo kennen lernen (20.3.1882); in der zweiten Romanhälfte spielt er die männliche Hauptrolle der diskreten Romanze, die langsam, aber sicher auf Ullas Verlobung zuläuft. Die Briefe, meist autobiografisch und gelegentlich essayistisch, scheinen hier deutlich fiktionale Züge zu tragen. Gezielt weckt Binzer im Leser die gespannte Erwartung, ob sich Mister Hall zuletzt in Ullas Mister Right verwandeln wird. Dazu tragen vor allem das auffällig geheuchelte Desinteresse an seiner Person und die angebliche Zufälligkeit ihrer Begegnungen bei. So schenkt er ihr bei einem zufälligen Treffen auf der Straße einen Strauß roter Rosen, die er soeben zufällig gekauft hat (vgl. S. 98). Später, als Ulla bereits in São Sebastião beschäftigt ist, bestellt der fazendeiro Souza ausgerechnet bei Halls Unternehmen Maschinen, so dass es zu einem weiteren zufälligen Wiedersehen kommt.
Doch steht die fiktionstheoretische Frage nach dem konstruierten Charakter der Romanze mit Mr. Hall hier nicht im Vordergrund. Hinsichtlich des Problemkomplexes von Identität und Alterität ist von Interesse, dass Ulla die dezente Aufmerksamkeit des Engländers der dreisten Aufdringlichkeit brasilianischer Männer kontrastiv gegenüberstellt:[26] weißt Du, Grete, er ist wirklich sehr nett, gar nicht wie die Brasilianer, fast wie ein Deutscher [...].“ Abgesehen von seinen „aufrichtige[n] große[n] blaue[n] Augen“ (S. 93) verdankt es George Hall – Ulla erfährt seinen Vornamen zufällig, als er ihr einen Brief von seiner Schwester zu lesen gibt (vgl. S. 109) – offensichtlich seinem germanischen Erbgut, dass er als Bräutigam der Protagonistin in Frage kommt. Der Rassengegensatz, so scheint es, würde jeden potenziellen brasilianischen Anwärter von vornherein ausschließen.
2.4 Alterität aufgrund der Religion
Es liegt auf der Hand, dass Ulla die religiösen, oder besser, konfessionellen Differenzen zwischen ihr und den meisten Menschen ihres brasilianischen Umfeldes als weiteren Grund des Fremdseins ansieht. Verglichen mit Nationalität und Rasse fällt dieser Aspekt ihrer Identität jedoch weniger stark ins Gewicht. Nur vereinzelt macht sie ihre Zugehörigkeit zum evangelisch-lutherischen Bekenntnis verantwortlich, wenn ihr manche Verhaltensweisen der katholischen Brasilianer ungewohnt erscheinen. In aller Regel handelt es sich dabei um Phänomene, die unmittelbar an den Bereich des Kultisch-Religiösen gekoppelt sind. So schildert sie die Taufe der Sklavenkinder in São Francisco als skurriles Zeremoniell, das von einem italienischen Wanderpriester in der hauseigenen Schneiderwerkstatt durchgeführt wird. Der profane Rahmen, das Kauderwelsch des Pfarrers, die naiv herausgeputzte Madonnenfigur in einem Wandschrank – das alles befindet Ulla für „merkwürdig für meine evangelische Seele“ (S. 32).
Angesichts der Kirchen von São João del Rei mit ihren Skulpturen des Bildhauers Aleijadinho äußert sie Bewunderung für „den Geist eines Volkes [...], das vor allem anderen dachte, seinem Gott Altäre zu bauen und seine Heiligen angemessen unterzubringen“ (S. 42). Selbst das Ulmer Münster oder der Kölner Dom hätten sie weniger beeindruckt, weil deren Pracht nicht in derart krassem Gegensatz zum ansonsten ärmlichen Stadtbild stehe. Dieser Kontrast allerdings müsse „den Europäer und zumal den Protestanten in billiges Erstaunen setzen“ (S. 41). Man könnte gegen diese Behauptung einwenden, dass die drei Hauptkirchen von São João del Rei im 18. Jahrhundert von Portugiesen gebaut wurden, Europäern also, die das Nebeneinander pompöser Sakral- und schlichter Profanbauten keineswegs befremdlich fanden.[27] Dass Lutheraner den Ornat katholischer Kirchen als übertrieben bewerten, ist indessen auch in Europa keine Seltenheit.
In dieselbe Kerbe schlägt sie, als sie von ihrem Besuch des protestantischen Gottesdienstes der nordamerikanischen Siedler im Umland von São Sebastião erzählt. Die Primitivität der strohgedeckten Lehmhütte wird hier als Ort der tieferen, ursprünglicheren Religiosität gegen die Überladenheit katholischer Kirchen ausgespielt: „[...] ich bezweifle, ob die glanzvollste Messe in Sankt Peters Dom auf mich auch nur nahezu den Eindruck gemacht hätte, wie unser einfacher evangelischer Gottesdienst in der Lehmhütte [...].“ (S. 132) Fragwürdig bleibt natürlich, inwiefern die Nordamerikaner tatsächlich demselben Bekenntnis anhängen wie Ulla, ob sie mit Recht von einem „evangelischen“ Gottesdienst spricht.
Es ist festzustellen, dass sie sich niemals explizit abwertend oder feindselig über den brasilianischen Katholizismus äußert, sieht man von einer Bemerkung über ein Priesterseminar in der Nähe von São Paulo ab: „Weiter im Innern der Provinz, bei den Padres (der Name des Ortes ist mir entfallen), werden die Pfaffen zurechtgemacht [...].“ (S. 91) Selbst hier ist es lediglich die Wahl der Worte und nicht deren Inhalt, mit dem sie ihre Verachtung ausdrückt; ferner zeugt es nicht von Sympathie, dass sie, entgegen ihrer sonstigen Akribie, es nicht für notwendig hält, den Ortsnamen zu recherchieren. Darüber hinaus spottet sie über die extreme Häufigkeit des Vornamens Maria, was implizit als Spitze gegen den katholischen Marienkult verstanden werden kann. Dass religiöse und konfessionelle Differenzen ansonsten wenig Reibung verursachen, weist auf einen Identitätsbegriff hin, der andere Aspekte in den Vordergrund stellt. Dies ist insofern bemerkenswert, als in der späteren Soziologie und Kulturwissenschaft häufig von den Unterschieden katholischer und protestantischer Gesellschaften die Rede ist; man denke etwa an Max Weber, der einen Zusammenhang von Protestantismus und Kapitalismus annimmt. [28] Vermutlich blendet Binzer die Interferenzen von Religion und Mentalität aus, weil sie zu sehr im biologistisch-materialistischen Rassendenken verhaftet ist. Die Religion eines Rassenkollektivs ist demnach nur der Ausdruck des Blutes, kommt aber nicht als Beweggrund für dessen Verhalten in Frage.
3.1 Das Sklaverei-Traktat
Nach Ina von Binzers impliziter Definition von nationaler
Identität, die im Kern auf unüberwindbaren Rassendifferenzen beruht, kann
eigentlich keine wirkliche Annäherung an das fremde Umfeld geschehen.
Tatsächlich bekundet Ulla bis zuletzt Empfinden von Alterität, fühlt sich
auf die Position der Außenseiterin fixiert und gelegentlich sogar
diskriminiert. In der Folge macht sie ihrem Unbehagen an Brasilien ziemlich
deutlich Luft, indem sie das Landestypische häufig im Negativen sieht, etwa
in der Unsitte des Ausspuckens:
Du weißt, Grete, ich bin nicht zimperlich, aber – für
den rauchenden Brasilianer scheint die Welt um ihn her nichts zu sein als ein
großer Spucknapf. Der offen zur Schau getragene Ekel der Fremden, ja, manche
recht blamable Szenen in Restaurants und auf den englischen Küstendampfern
haben bis jetzt nichts an dieser widerlichen Unsitte ändern können. (S.
88)
Für heutige Ohren mag diese Manifestation körperlichen Ekels erheiternd klingen, für die Briefschreiberin hat sie in erster Linie die Funktion einer prononcierten Grenzziehung. Doch zeichnet sich im Verlauf des Romans eine zweite Entwicklungstendenz ab, die in einem Konkurrenzverhältnis zu diesem statischen Selbstbild steht. Ullas Versuche, Brasilien und seine Einwohner intellektuell und affektiv zu verstehen, lassen deutlich erkennen, dass fruchtbarer interkultureller Austausch keineswegs von vornherein ausgeschlossen ist.
Zu nennen ist zunächst ein rekurrentes Thema ihrer Briefe, dem sie selbst den ironischen Titel „Nationalökonomische Abhandlung“ (vgl. S. 36 und S. 127) gibt.[29] Sie meint damit ihre essayistischen Betrachtungen über die Sklaverei und den Abolitionismus sowie die möglichen Folgen dieses gesellschaftlichen Wandels für Brasilien. Zwar hält sie sich selbst keineswegs für berufen, von derlei wissenschaftlichen und, nach den Vorstellungen der Zeit, nicht gerade femininen Themen zu handeln; daher stellt sie diesen Diskurs permanent unter das Vorzeichen der Selbstironie, indem sie sich etwa mit den Worten unterbricht: „Aber ich merke, dass ich schon wieder predige [...]“. (S. 127) Dennoch kommt sie immer wieder auf das „heiße Eisen“ der zeitgenössischen brasilianischen Politik zurück, mit dem sie sich auseinandersetzen muss, um Zugang zu ihrem Umfeld zu finden.
Das Sklaverei-Thema bleibt über den gesamten Roman hinweg präsent, wird aber besonders konzentriert in sechs Briefen behandelt.[30] Zusammenfassend könnte man sagen, dass Ulla die Leibeigenschaft von Anbeginn als fremd und verwerflich bewertet, sich mit dem Phänomen jedoch sukzessive vertraut macht. In ihrem zweiten Brief vom 9. Juni 1881 amüsiert sie sich über das Verhältnis von Weißen und Schwarzen in Brasilien, dem es übrigens nicht an gegenseitiger Zuneigung fehle: „Überhaupt hat die Würde, welche hier durch das Bestehen der Sklaverei schon die Kinder annehmen, oft etwas komisches. Dagegen ist es wiederum rührend, wie sie auch anderseits an den guten, treuen Negern und Negerinnen hängen.“ (S. 13) Gute vier Monate später, sie hat inzwischen Einblicke in die brasilianische Gesellschaft gewonnen, hält sie es Dr. Rameiro zugute, dass er seine alten, abgearbeiteten Sklaven gerade nicht in die Freiheit entlässt. Der Pflanzer habe die Pflicht, sie weiterhin zu versorgen, da sie sich sonst nicht erhalten könnten. (vgl. S. 55) Dr. Rameiros Behauptung, der Brasilianer sei „gutmütiger als der Nordamerikaner“ (S. 35), weshalb die brasilianische Sklaverei ein geringeres Übel sei als diejenige in den USA, akzeptiert sie widerspruchslos.
Schon vorher stellt sie Reflexionen an, ob das Land nicht
vom Regen in die Traufe käme, wenn die Sklavenhaltung von heute auf morgen
abgeschafft würde. Die Folge wäre einerseits der plötzliche Ausfall von
Arbeitskraft in Wirtschaft und Agronomie, andererseits die schlagartige
Verelendung der Schwarzen. Hinzu komme, dass die Schwarzen den Wert der
Freiheit nicht im gleichen Maße zu schätzen wüssten wie die Weißen –
als Grund nennt sie natürlich einmal mehr die Rasse:
Daß Rohheit und tierische Grausamkeit den Sklaven
gegenüber oft zu sehr traurigen Vorkommnissen führen, das konnte ich mir
denken; aber andererseits, die idealen Anschauungen tiefgebildeter Menschen
zu suchen bei einer Rasse, die durch Generationen geknechtet ist, unsere
Begriffe von Freiheit bei den Männern, von Ehre bei den Frauen
vorauszusetzen, das, merke ich wohl, wäre eitel dichterische Illusion. (S.
36)
Obwohl sie den Schwarzen den Sinn für höhere Ideale abspricht, bringt sie ihnen zugleich Respekt entgegen. Sie seien es schließlich, die durch ihre kontinuierliche Arbeitsleistung die brasilianische Gesellschaft am Leben erhielten. Daher, so stellt sie pointiert fest, seien die eigentlichen Herren des Landes die Sklaven. (vgl. S. 31) So sieht sie die Ursache der mutmaßlichen Katastrophe nach der Abolition nicht allein im Wegfall der schwarzen Arbeitskräfte, sondern ebenso in der Unfähigkeit der weißen Brasilianer, diese zu ersetzen. Implizit entwickelt sie eine Rassenhierarchie, auf deren oberster Stufe der germanische Mensch steht, weil er in Freiheit produktiv ist. Der Afrikaner und der Romane hätten gemeinsam, dass sie nur unter Zwang arbeiteten: „[...] der Brasilianer [i.e. der Weiße] arbeitet nicht, und ist er arm, so schmarotzert er lieber bei wohlhabenderen Verwandten oder Freunden umher, als daß er redlich die Hände rührte.“ (S. 31) Die Hoffnung, dass sich die Schwarzen ihr Brot künftig durch selbständige Arbeit verdienen würden, könne gar nicht anders als enttäuscht werden. Denn damit verlangten die weißen Brasilianer von ihnen gerade das, was sie selbst nicht zu leisten imstande seien. Bezüglich des befreiten Sklaven stellt Ulla die pessimistische Prognose: „Er wird´s ruhig der weißen Rasse nachmachen und so wenig wie möglich arbeiten [...].“ (S. 155)
Ungeachtet ihres Glaubens an den Rassendeterminismus sieht
sie den Ausweg aus dem Dilemma in einer langsamen Erziehung der Schwarzen,
möglichst von Kindesbeinen an, damit eine produktive Arbeiterklasse
entstehe:
Die Brasilianer sollten sich in ihrem eigenen Volke einen
Arbeiterstand heranziehen, den sie so wenig wie einen Handwerkerstand bis
jetzt haben, und sie könnten dies mit einem wenigstens teilweisen Erfolg
tun, wenn sie die freien Negerkinder an eine regelmäßige Arbeit zu
gewöhnen suchten. Es geschieht aber gerade das Gegenteil. (S. 126)
„Das Gegenteil“ – damit meint sie das völlige Desinteresse der Sklavenhalter an den frei geborenen Kindern ihrer Leibeigenen. Deren Erziehung und Ausbildung stellt in den Augen der Herren keinerlei Nutzen dar, weil sie später nicht in ihren Diensten stehen werden. Stattdessen wird meistens versucht, sich der Kinder und der alten, unbrauchbaren Sklaven so schnell wie möglich zu entäußern.
Ulla distanziert sich daher von der „unbedachte[n] Humanität“ (S. 159) der Abolitionisten-Verbände, die das sofortige Ende der Sklavenhaltung fordern.[31] Natürlich fühlt sie sich genötigt, ihre Einstellung Grete gegenüber zu rechtfertigen, weil sie in Europa kaum auf Verständnis für ihre Kompromissbereitschaft hoffen darf. Über Sklavenhalter, die ihre Leibeigenen aus freien Stücken entlassen, schreibt sie: „[...] wenn ich jetzt im Geiste Euer `Nun, das ist aber so natürlich!´ höre, so sage ich mir freilich, dass ich in Europa ebenso gedacht haben würde, aber auch zugleich, dass man hier an Ort und Stelle anderer Meinung werden muss!“ (S. 97) Nicht ohne Schadenfreude beobachtet sie das verbissene Gerangel der Sklavenhalter mit den Abolitionisten, die laut Gesetz jeden Sklaven freikaufen dürfen, wenn sie den verlangten Preis bieten. Natürlich veranlasst dies die Herren, überhöhte Preise zu fordern, so dass nicht selten ein gerichtlicher Gutachter hinzugezogen werden muss. Zu Ullas Erheiterung schneidet sich Herr Costa, ihr Arbeitgeber in São Paulo, ins eigene Fleisch, als er ein angemessenes Angebot für seinen besten Sklaven aus Jähzorn ausschlägt. Den bestellten Amtsarzt kann der kerngesunde Schwarze nämlich mit einem fingierten Leiden täuschen, so dass er am Ende zu einem viel niedrigeren Preis freikommt.
Man muss Ina von Binzer einen nahezu visionären Einblick
in die gesellschaftlichen Prozesse Brasiliens zugestehen, sieht man von den
Irrtümern des Rassendenkens und -determinismus ab, die tief im Denken ihrer
Zeit verwurzelt sind. Während die Abolition mit Hochdruck vorangetrieben und
1888 vielfach euphorisch bejubelt wird, erkennt sie im vorhinein, dass sich
schwerwiegende, langfristige Probleme daraus ergeben werden:
Was überhaupt diese schwarze Rasse für ein Druck auf
Brasilien ist, und dass die Sklaverei schließlich ein weit größerer Fluch
für die Sklavenhalter als für die Neger ist, das zeigt sich jetzt so recht,
wo sie aufgegeben werden soll. Was, um Gotteswillen, soll aus den Millionen
von schwarzen Sklaven hier werden! (S. 154)
3.2 Korrekturen des Fremd- und Selbstbildes
Was weiß Ulla von Eck über Brasilien, bevor sie das Land im Mai 1881 betritt? Offenbar nicht viel. Sie bringt eine stereotype Vorstellung von Brasilianern mit, die sich, über einen direkten intertextuellen Bezug, auf die Welt der Operette zurückführen lässt. Gleich zu Anfang beschreibt sie Dr. Rameiro, der ihren Erwartungen augenscheinlich überhaupt nicht entspricht, mit folgenden Worten: „Weder wenn er mit gespreizten Beinen vor dem Hause steht oder wenn er abends tatenlos in der Hängematte liegt, hat er die geringste Ähnlichkeit mit den schönen Brasilianern auf der seligen Friedrich-Wilhelmstädtischen Operetten-Bühne. Es ist recht niederschlagend!“ (S. 9) Diese Klage ist zweifellos ironisch gebrochen, da die preußisch-protestantische Briefschreiberin mit beiden Beinen fest am Boden steht und die Wirklichkeit nicht ernsthaft mit den Maßstäben der Opernbühne bewerten würde. Es liefert jedoch eine Erklärung für Ullas Brasilianer-Stereotyp, zumal uns die Briefschreiberin einige Seiten später auf die Spur zu dessen Ursprung führt. Als sich Dr. Rameiro als relativ humaner Sklavenhalter entpuppt, notiert sie: „Weißt Du, Grete, ich habe es ihm schon längst verziehen, daß er nicht so bunt angezogen geht wie der Operetten-Brasilianer der kleinen Handschuhmacherin – er ist wirklich ein guter Mensch [...].“ (S. 56) Diese Aussage lässt sich eindeutig als Referenz auf Jacques Offenbachs La Vie parisienne identifizieren, eine opéra bouffe aus dem Jahr 1866. Darin kommt ein schwerreicher, lebenslustiger Brasilianer nach Paris, um in der französischen Hauptstadt einmal mehr sein angehäuftes Vermögen zu verschleudern. Er trägt im übrigen keinen dämlicheren Namen als Pompa di Matadores, was Ina von Binzer zu Ullas Lieblingsadjektiv für Brasilianer, pomphaft, inspiriert haben könnte. Am Ende, dies erklärt die intertextuelle Referenz, verliebt sich der Big Spender in die Handschuhnäherin Gabrielle.
Derart romantische Klischees dienen Ulla allenfalls als Kontrastfolien für ihre Beschreibung der ganz anders gearteten Wirklichkeit. Auch sonst manifestiert sie ihren zunehmenden Überdruss an Stereotypen, die sich bei näherer Betrachtung als durchweg fadenscheinig und prinzipiell nutzlos herausstellen. Sie gesteht den Brasilianern „eine wunderbare Art von Reinlichkeit und Ordnung“ zu, meint aber zugleich bemängeln zu müssen, dass „viele Kinder und Erwachsene nie so recht 'zweifelsohne' um Ohren und Hals herum“ seien. Was das Thema Körperpflege angehe, gebe es „zwischen Einheimischen und Fremden eine kleine Gereiztheit“ (S. 106). Sie zitiert eine der geschmacklosen Anekdoten, von denen es auf beiden Seiten viele gebe, und zieht folgenden Schluss: „Nun, derlei Streitereien sind unfruchtbar und werden vor allen Dingen nichts ändern an eingeborenen und durch das Klima begünstigte Eigenschaften.“ (S. 107)
Aus der genauen Analyse des Fremden folgt meistens eine
Revision des Selbstbildes, da das Eigene und das Fremde durch kontrastive
Gegenüberstellung bestimmt sind. In Ullas Fall äußern sich die Zweifel an
der eigenen Identität zunächst in einem gebrochenen Blick auf ihre
Landsleute, etwa den Naturforscher, der die Familie Rameiro besuchen kommt.
Er nimmt in ihrem Brief vom 5. Oktober 1881 die Züge einer Karikatur an. Sie
befindet den unbeholfenen Wissenschaftler, der vor Rameiros Sklaven Reißaus
nimmt, weil er sie für Kannibalen hält, für dermaßen grotesk, dass sie
selbst den verhassten Töchtern des Hauses ihren mutmaßlichen Spott
gönnt:
Er ist ein „Gelehrter“, wie er in den Büchern steht,
und würde mit seiner Pedanterie und seiner wunderlichen Kleidung selbst bei
uns komisch sein, hier aber sehe ich es dem Vehmgericht [i.e. ihre
Schülerinnen, die Rameiro-Töchter] an, wie es sie entzückt, sich über
etwas Deutsches lustig zu machen, und bin gewiss, dass sie überzeugt sind,
alle Deutschen wären genau wie dieser Professor. (S. 50)
Vergleichsweise lächerlich stellt sie im gesamten Briefroman nur noch eine weitere Person dar, und zwar ausgerechnet wieder einen der wenigen Deutschen, die ihr im Verlauf ihres Brasilien-Aufenthaltes begegnet. Es handelt sich um einen Herrn Goldschmidt, früher Geschäftsfreund eines ihrer Onkeln, der offenbar Handelsbeziehungen nach Brasilien unterhalten hat.[32]
Als sie ihr Treffen mit Goldschmidt in Nova Petrópolis schildert, beweist Binzer erneut ihr Talent, schrullige Käuze zu porträtieren. Der übellaunige Herr mit dem komischen Tick, ständig die Daumen in die Westenärmel zu haken, befürchtet, Ulla wolle ihn um Geld anpumpen. Als er begreift, dass sie dies gar nicht beabsichtigt, wird er vor Freude hilfsbereit. Dieses paradoxe Verhalten kommentiert Ulla ironisch: „Es geht doch nichts über gute Empfehlungen an Landsleute im fremden Lande – da kann man doch absolut nicht verderben!“ (S. 65)
Dieses Unbehagen an bestimmten Deutschen im Ausland weitet sich durchaus zur Skepsis an der eigenen nationalen Identität aus. An der kindlichen Freude der Brasilianer an Feuerwerken übt sie zunächst Kritik. Als jedoch bei einer festa de São João bei Costas in São Paulo eine Rakete beinahe inmitten der Gäste explodiert, weswegen sie als einzige maßlos erschrickt, während alle anderen lachen, fragt sie sich: „Ist diese Gutmütigkeit richtig, sind wir etwa daheim gar zu 'diszipliniert'?!“ (S. 112) Das Wechselspiel der interkulturellen Erfahrung, das über eine veränderte Sicht auf das Fremde zu einer neuen Wahrnehmung des Eigenen führt, nimmt hier klare Konturen an.
3.3 Anfreundung mit dem fremden Umfeld
Nachdem Ulla die Tristesse der fazenda São Francisco hinter sich gelassen hat, also spätestens während ihres Aufenthaltes in Rio de Janeiro, beginnt sie sich zunehmend mit ihrem brasilianischen Umfeld anzufreunden. Dieser Prozess verläuft schleppend und ist mit der intellektuellen Beschäftigung mit dem Gastland verbunden. Anders als die Mangobäume der Familie Rameiro kann die Stadt Rio sie durchaus ins Schwärmen bringen: „Da wäre ich wieder in der bunten, südlichen Stadt und mitten in ihrem Lärm! Gretel – schön ist dieses Rio, das muss man sagen, wunderbar schön und phantastisch, zumal von der Bai aus [...].“ (S. 67) Natürlich baut sie ihre Vorbehalte gegen die kaiserliche Residenzstadt nicht vollständig ab, beschließt aber kurzerhand, die berühmte, „unausstehlich schattenlos[e]“ Palmenallee im Botanischen Garten schön zu finden: „Die Allee ist merkwürdig und darum auch schön – basta! Ich will versuchen mir diese Meinung auch noch anzugewöhnen und fortan die Palme als den Alleebaum par excellence anzusehen. Ob es mir gelingen wird?“ (S. 72) Allerdings bevorzugt sie von den beiden Metropolen São Paulo, das sie an einer Stelle „mein geliebtes São Paulo“ (S. 135) nennt, weil ihr die Stadt ein internationaleres Milieu bietet.[33]
In der Rio-Phase kommt es auch zu einer Neuorientierung in Sachen Pädagogik. Die didaktischen Grundsätze, die Ulla nach Brasilien mitbringt, stützen sich im wesentlichen auf ein Handbuch, das sie nach dessen Verfasser metonymisch als „den Bormann“ bezeichnet; gleich zu Beginn ihres zweiten Briefes führt sie das Werk als „vierzig pädagogische Briefe“ in ihren Diskurs ein.[34]
Schon in diesem frühen Stadium ihres Auslandsaufenthaltes
scheint es ihr für die Erziehung brasilianischer Kinder inadäquat. Sie
stellt ironisch fest, „Bormann hätte hier oft selber nicht gewußt, was er
machen sollte.“ (S. 11) Erst in Rio freilich wandeln sich die Zweifel zu
einer ernsthaften Auseinandersetzung mit Interkulturalität, wobei dieser
explizite Begriff natürlich keinen Eingang in ihre Reflexion findet. Als sie
ihre Klasse zu disziplinieren versucht, indem sie die Schülerinnen mehrmals
aufstehen und sich wieder setzen lässt, wie es Bormann in solchen Fällen
empfiehlt, bleibt der gewünschte Erfolg aus. Dies veranlasst sie zu einem
Gedankengang, der mit Hilfe geschickt verflochtener Metaphorik zu ihrem
„Gartengleichnis“ zurückführt:
Ich sehe wohl ein – wenn hier eine Pädagogik
eingeführt werden soll, dann muss sie brasilianisch sein und nicht deutsch
– brasilianisch in bezug auf die ganze Auffassung und alle Voraussetzungen,
sie muss dem Charakter des Volkes, den häuslichen Lebensverhältnissen
angepasst sein. Brasilianische Kinder sollten überhaupt nicht von Deutschen
erzogen werden, es ist völlig verlorene Mühe, denn das fremde Reis, das der
Jugend da aufgepfropft wird, gedeiht doch nicht! Mir geht es hier mit den
Kindern, wie ich Dir von São Francisco in Bezug auf die Pflanzen schrieb:
wir verstehen einander nicht, wir reden äußerlich und auch seelisch eine
fremde Sprache miteinander, und besonders letzteres macht mir die Existenz
hier zu einer furchtbar unbehaglichen. (S. 82-83)
Spontan möchte man einwenden, dass Bormanns Methoden bei deutschen Schülern vielleicht auch nicht in allen Fällen verfangen hätten. Auch ist die Schlussfolgerung, brasilianische Kinder dürften überhaupt nicht von deutschen Pädagogen erzogen werden, reichlich übertrieben. Der frühzeitige Kontakt mit fremder Kultur ist nach heutiger Vorstellung positiv zu bewerten. Zieht man das resignierte Fazit von dieser pädagogischen Stellungnahme ab, so bleibt die progressive Erkenntnis, dass kulturell Anderes auch mit anderen Maßstäben zu messen ist. Zweifellos ist es falsch, lateinamerikanische Pädagogik so stark wie möglich europäischen Normen anzugleichen, statt sie nach den eigenen jeweiligen Notwendigkeiten auszurichten. Ulla, so scheint es, findet den alternativen Zugang zu ihren Zöglingen erst in São Paulo und, noch mehr, auf der fazenda São Sebastião.
In São Sebastião nämlich entwickelt sie endlich
affektive Bindung an ihre Schützlinge, namentlich an das Mädchen Maricota,
„ein sehr liebes Geschöpf“ (S. 119). Deren Cousin Luiz Guilherme, den
sie während der Sommerfrische in Santos unterrichten muss, vermag wider
Erwarten ebenfalls ihre Sympathie zu erwecken:
[S]ämtliche professoras der Familien kannten ihn bereits
und behaupteten, ihn nach Gebühr zu „schätzen“. [...] Aber siehe da, er
entpuppte sich als ein ganz traitabler, sogar ziemlich liebenswürdiger und
recht intelligenter Junge von 13 Jahren, der auf den Spaziergängen schon den
Kavalier spielt, und dem ich bis jetzt keine Verdrehtheiten angemerkt habe,
als daß er steif und fest behauptet, er habe die Gicht in den Füßen. (S.
140)
Darüber hinaus bildet Ulla während der letzten Etappe ihres Lebens in Brasilien Gewohnheiten heraus, für die sich ihr Umfeld in besonderem Maße anbietet. So stellt sie ein eigenes Naturalienkabinett zusammen, das aus Fundstücken wie Kolibrinestern, Fischotternfellen, Insekten und Proben verschiedener Hölzer besteht. Darunter befindet sich auch der Panzer eines Gürteltieres, dessen Fleisch die anfangs so heikle Ulla gemeinsam mit den Souzas verspeist hat. Sie hält fest, dass es „ganz gut, etwa wie zartes Kalbfleisch oder Huhn schmeckte.“ (S. 133) Ebenso stolz berichtet sie, dass sie zu reiten begonnen habe (vgl. S. 122), was ihr etwa die Teilnahme an den Gottesdiensten der Amerikaner ermöglicht. (vgl. 129) Es gelingt ihr also zuletzt, sich dem fremden Umfeld affektiv anzunähern, was ihr Verhältnis zu diesem grundlegend ändert: „Ach, Gretele, ich bin so froh! Und es ist doch eigentlich ganz hübsch in Brasilien.“ (S. 139)
Was ist das Brasilien-Klischee Nr. 1? Richtig, die Schlangen. Nach übereinstimmender europäischer und nordamerikanischer Ansicht kann man im größten Land Südamerikas keine drei Schritte laufen, ohne über irgendein Reptil zu stolpern. Es versteht sich von selbst, dass auch Ulla mit dieser Erwartung brasilianischen Boden betritt. Bereits im ersten Brief scherzt sie über die mutmaßliche Enttäuschung ihrer Adressaten über den Bericht ihrer Reise von Rio de Janeiro nach São Francisco, die so gar nicht abenteuerlich verlaufen sei: „[...] als Geringstes hättet Ihr doch eine Riesenschlange verlangen können [...]“ (S. 5). Wenige Monate später, ihre Klagen über die gelangweilten Gesichter der Rameiro-Töchter mehren sich, kann sie die schaurigen Kriecher endlich nachreichen. Sie berichtet Grete, dass sie in ein anderes Zimmer umgezogen ist, weil sie „eine Schlange unmittelbar vor meinem Fenster sah – hu, die ekelhaften Tiere!“ (S. 50) Aus verständlichen Gründen bleiben die Berichte über Schlangen aus, solange sie sich in Rio de Janeiro und São Paulo aufhält; erst als sie nach São Sebastião gewechselt ist, soll sich dies wieder ändern. Doch hat sie mittlerweile das Reiten für sich entdeckt und sich auch sonst mit ihrem brasilianischen Umfeld angefreundet, so dass sie in der Beschreibung ihres Naturalienkabinetts überraschend notiert: „Eine Schlange, und zwar eine hübsche Korallenschlange, habe ich mir auch schon 'eingemacht'“. (S. 134) Weniger hübsche Exemplare der Gattung, vor denen sie sie noch einige Monate vorher die Flucht ergriffen hat, bringt sie jetzt kaltblütig um. Sie tut es darin den übrigen Bewohnern der fazenda gleich: „Vor einigen Tagen habe ich selber mit meinem Regenschirm ein kleineres Exemplar von diesen Unholden totgeschlagen [...].“ (S. 143)
Ullas wechselndes Verhältnis zu den Schlangen durchzieht den Briefroman wie ein Leitmotiv: Der Kontakt mit dem fremden Umfeld führt zur Auseinandersetzung mit der Alterität und, in der Folge, mit der ihrer Identität. Das Verstehen des Anderen ist also zugleich die Neubestimmung des Eigenen.
[1] ZWEIG, Stefan. Brasilien. Land der Zukunft, Frankfurt am Main: Insel, 1997, S. 7.
[2] Meine sämtlichen Zitate aus dem Primärwerk entstammen folgender Ausgabe: BINZER, Ina von. Os meus romanos: alegrias e tristezas de uma educadora alemã no Brasil / Leid und Freud einer Erzieherin in Brasilien. Zweisprachige Ausgabe, ins Portugiesische übersetzt von Alice Rossi und Luisita da Gama Cerqueira. 6. Auflage, Rio de Janeiro: Paz e Terra 1994.
[3] CARVALHO FRANÇA, Jean Marcel. Preto no (pensamento do) branco (29. Oktober 2002).
Verfügbar unter http://www1.folha.uol.com.br/folha/sinapse/ult1063u156.shtml, abgerufen am 29.1.2008.
[4] Zur Kategorie der Fremdheit in der interkulturellen Philologie siehe ALBRECHT, Corinna. Fremdheit. In: Handbuch interkulturelle Germanistik. Hrsg. von Alois Wierlacher und Andrea Bogner. Stuttgart/Weimar: Metzler, 2003. S. 232-238.
[5] Kalervo Oberg (1901–1973), ein kanadischer Anthropologe, hielt 1954 in Rio de Janeiro einen Vortrag über das psychologische Phänomen des Kulturschocks als „occupational disease of people who have been suddenly transplanted abroad“.Laut Oberg durchläuft ein langfristiges Fremdheitserlebnis stets dieselben Phasen; verkürzt formuliert, nimmt es seinen Anfang in Faszination von der Alterität des Gastlandes, die in Frustration angesichts der exzeptionellen Schwierigkeiten des Lebens im Ausland umschlägt, bis schließlich ein Zustand der Normalität eintritt.
(vgl. OBERG, Kalervo. Culture Shock(1954). Verfügbar unter http://www.smcm.edu/academics/internationaled/pdf/cultureshockarticle.pdf, abgerufen am 2.2.2008)
[6] Duarte in Binzer 1994, S. 9.
[7] Zeichnungen Almeida Prados wurden während der Semana de Arte Moderna ausgestellt und in der Modernisten-Zeitschrift Klaxon veröffentlicht.
[8] Duarte in Binzer 1994, S. 9-10.
[9] Vgl. Albrecht 2003.
[10] Marly Ritzkat, die ihrem Essay über Binzers Briefroman einen biografischen Abriss voranstellt, in dem sie alle bekannten und vermutlich glaubwürdigen Fakten aus dem Leben der Autorin sammelt, zweifelt ebenso an der realen Existenz des Mister Hall (vgl. RITZKAT, Marly. A vida privada no Segundo Império: pelas cartas de Ina von Binzer (1881–1883). São Paulo: Atual, 1999, S. 29. Zu grundlegenden Informationen über Binzers Briefroman siehe auch HAHNER, June E. Ina von Binzer, A German Schoolteacher in Brazil. In: Women through Women´s Eyes. Latin American Women in Nineteenth-Century Travel Accounts. Wilmington: Scholarly Resources 1998, S. 119-131).
[11] Über Ullas Überfahrt nach Brasilien erfahren wir wenig; nur einmal erwähnt sie beiläufig ein Paar Lederhandschuhe, die sie „noch in Antwerpen“ (S. 62) gekauft habe.
[12] Von speziell pädagogischem Interesse ist beispielsweise Flavinês Rebolo Lapos Lektüre des Briefromans gelenkt (vgl. REBOLO LAPO, Flavinês. As cartas de Ina von Binzer: uma possível contribuição para a formação de professores. In: Revista de Estudos Universitários da Universidade de Sorocaba 27/1 (2001), S. 9-21).
Auf soziologische und geschichtliche Daten hingegen konzentriert sich Maria Cristina Gomes Machado (GOMES MACHADO, Maria Cristina. Os meus romanos, alegrias e tristezas de uma educadora no Brasil de Ina von Binzer. Verfügbar unter http://www.histedbr.fae.unicamp.br/res2_10.html#_edn1, abgerufen am 29.1.2008).
[13] Die Mentalitätengeschichte ist ein Teilbereich der Geschichtsschreibung, der sich bewusst von der beherrschenden Diplomatie- und Ereignisgeschichte abzusetzen versucht. Es handelt sich dabei um „eine Sozialgeschichte, die den Menschen in seiner alltagsweltlichen Totalität erfassen und an die Stelle bloßer Chronik die Beschreibung langfristig stabiler Strukturen setzen will“ (DÖRNER, Andreas / VOGT, Ludgera. Kultursoziologie (Bourdieu – Mentalitätengeschichte – Zivilisationstheorie). In: Neue Literaturtheorien. Eine Einführung. Hrsg. von Klaus-Michael Bogdal. 3. Auflage, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. S. 134-158, S. 136). Da die Alltagswelt und ihre Strukturen gerade in literarischen Texten Konturen gewinnen, bietet sich die Fusion von Literaturwissenschaft und Mentalitätengeschichte im Rahmen der Kulturstudien an.
[14] Diese Opposition soll in der vorliegenden Studie zur deutsch-brasilianischen Interkulturalität systematisch nachgezeichnet werden. Es geht darum, das Profil einer kulturübergreifenden Autorschaft an einem konkreten Beispiel fassbar zu machen. Die zentralen Fragestellungen zum Thema Autorschaft in der interkulturellen Literaturwissenschaft formuliert Norbert Mecklenburg im Handbuch interkulturelle Germanistik konzise und prägnant: „Was macht eine interkulturelle Autorschaft aus? Gibt es eine Poetik interkulturellen Schreibens (multicultural/cross-cultural writing)? Wie werden kulturspezifische und -überschreitende Wissensbestände, Erfahrungen, Imaginationen literarisch fixiert und transformiert? Welche interkulturellen Rezeptionsstrategien, welche schriftstellerischen Balancekünste zwischen Näherbringen und Fremdseinlassen haben Autoren entwickelt?“ (MECKLENBURG, Norbert. Literaturforschung und Literaturlehrforschung. In: Handbuch interkulturelle Germanistik. Hrsg. von Alois Wierlacher und Andrea Bogner. Stuttgart/Weimar: Metzler, 2003. S. 433-439, S. 435).
[15] Der Schweizer Dranmor, eigentlich Ludwig Ferdinand Schmid, war in den 1840er Jahren als Kaufmann in Brasilien tätig und erwarb dort großen Reichtum. Nach seiner Rückkehr nach Europa publizierte er sein umfangreiches lyrisches Werk. Binzer lässt ihre fiktive Briefschreiberin, übrigens verfälschend, aus seinem Gedicht Heimweh zitieren. Dessen elfte Strophe lautet eigentlich folgendermaßen: „So reicht die Bruderhand dem Reisemüden,/ Daß er sich löse von dem Zauberbanne;/ Er gibt ihn hin, den sonnetrunknen Süden,/ Für eine einz´ge schneebehangne Tanne“ (SCHMID, Ludwig Ferdinand [Dranmor]. Dranmor’s Gesammelte Dichtungen. 4. Auflage, Frauenfeld: J. Huber, 1900, S. 146). Später wird Ulla ihrer Korrespondentin gegenüber den Lyriker als „unsere[n] verehrten Dranmor“ (S. 93) und als „de[n] geistreiche[n] Fernando Schmidt“ (S. 156) bezeichnen.
[16] Nationalität wird hier, wie dies etwa Jürgen Fohrmann in seinem Aufsatz über den Begriff der Nationalliteratur zeigt, als imaginäres, aber kollektives Konstrukt verstanden (vgl. FOHRMANN, Jürgen. Grenzpolitik. Über den Ort des Nationalen in der Literatur, den Ort der Literatur im Nationalen. In: Nationale Literaturen heute – ein Fantom? Die Imagination und Tradition des Schweizerischen als Problem. Hrsg. von Corinna Caduff und Reto Sorg. München: Wilhelm Fink, 2004. S. 23-33, S. 25).
[17] Vgl. DEWULF, Jeroen. Wenn die Schweizer Heimat exotisch geworden ist. Das Thema der Heimkehr aus Brasilien bei deutschschweizerischen Autoren. In: TRANSIT, vol. 2, No. 1 (2006). Article 60402, S. 4.
[18] Duarte 1994, S. 10.
[19] Laut Wierlacher und Albrecht kann Fremdheitsforschung, auch Xenologie genannt, „als Theorie und Geschichte der Gastlichkeit“ (WIERLACHER, Alois / ALBRECHT, Corinna. Kulturwissenschaftliche Xenologie. In: Konzepte der Kulturwissenschaften. Theoretische Grundlagen – Ansätze – Perspektiven. Hrsg. von Ansgar Nünning und Vera Nünning. Stuttgart/Weimar: Metzler 2003. S. 280-306, S. 297) definiert werden.
[20] vgl. RIBEIRO, João Ubaldo. Ein Brasilianer in Berlin, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1994, S. 19.
[21] Vgl. GOBINEAU, Arthur de. Essai sur l'inégalité des races humaines. Paris: Firmin-Didot, 1884 (2 Bände).
[22] Potts frühzeitige Kritik an Gobineau ist nachzulesen in POTT, August Friedrich. Die Ungleichheit menschlicher Rassen, hauptsächlich vom sprachwissenschaftlichen Standpunkte, unter besonderer Berücksichtigung von des Grafen von Gobineau gleichnamigem Werke. Lemgo/Detmold: Meyer, 1856. Vgl. insb. S. V..
[23] Bereits 1850 waren der Sklavenhandel und die Einfuhr von Sklaven verboten worden; gemeinsam mit der Lei do Ventre Livre leitete dieses Gesetz die Endphase der Sklaverei ein, da neue Sklaven weder importiert noch nachgeboren wurden.
[24] An anderer Stelle beschreibt Ulla einen Sklavenjungen, „eine scheußliche kleine schwarze Kreatur“, mit folgenden Worten: „Denke sie [i.e. die Kreatur] etwa zwölfjährig, mehr Affe als Mensch, bis an die Ohren grinsend, mit unappetitlichem Wollhaar, fingerbreitem Vorkopf, entsetzlich dickem Bauch und stockartigen schwarzen Beinen, die vor Staub ganz lila schimmerten; denke Dir dies ganze nur bekleidet mit der denkbar kürzesten Ausgabe eines Hemdes von undefinierbarer Farbe, und Du wirst begreifen, daß ich von diesem edlen Mitgeschöpf nicht gerade hingerissen war.“ (S. 12)
[25] Mit Rückgriff auf Kalervo Obergs Phasenmodell des Kulturschocks könnte man behaupten, dass sich Ulla im zweiten Stadium befindet: Sie lehnt ihr brasilianisches Umfeld ab und zieht sich mangels deutscher Landsleute in die Gemeinschaft der Briten und Amerikaner zurück. „You become aggressive, you band together with your fellow countrymen and criticize the host country, its ways and its people. [...] You take refuge in the colony of your countrymen and its cocktail circuit which often becomes the fountainhead of emotionally charged labels known as stereotypes.” (Oberg 1954)
[26] Davon war bereits die Rede. An anderer Stelle heißt es sarkastisch, dass „wir Europäerinnen es uns immer als eine Höflichkeit vonseiten der brasilianischen Herren anrechnen müssen, wenn sie uns ignorieren“ (S. 116).
[27] Es ist leicht nachzuvollziehen, auf welche Kirchen sich Binzer bezieht: Es dürfte sich um die Igreja de São Francisco de Assis, die Igreja de Nossa Senhora do Carmo und die Catedral de Nossa Senhora do Pilar handeln. Der Reiseführer Lonely Planet preist die Maria Fumaça (Dampfeisenbahn), die von São João del Rei nach Tiradentes fährt, als touristische Attraktion an (vgl. NOBLE, John, u.a. BRAZIL. Travel Survival Kit. Hrsg. von Lonely Planet Publications. 3. Auflage, London: Lonely Planet, 2002, S. 258-261)..
[28] Vergleiche dazu Webers grundlegendes Werk von 1904: WEBER, Max. Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. Hrsg. von Dirk Kaesler. 2. Auflage, München: Beck, 2006.
[29] Ullas „Nationalökonomische Abhandlung“ erhebt nicht den Anspruch, als wissenschaftlicher Text anerkannt zu werden, setzt sich jedoch ernsthaft mit dem sozialen Wandel Brasiliens auseinander. Sie ist Bestandteil des Briefromans, kann mit literaturwissenschaftlichen Analysetechniken jedoch nicht beschrieben werden. Die Mischung der Diskurse im Primärtext zeigt, dass die „Ausweitung des Gegenstandsbereichs literaturwissenschaftlicher Forschung“ (NÜNNING, Ansgar. Literatur, Mentalitäten und kulturelles Gedächtnis: Grundriß, Leitbegriffe und Perspektiven einer anglistischen Kulturwissenschaft. In: Literaturwissenschaftliche Theorien, Modelle und Methoden. Eine Einführung. Hrsg. von Ansgar Nünning. Trier: WTV. S. 173-198, S. 174) erforderlich ist, um dem Gegenstand der Betrachtung gerecht zu werden.
[30] 25.7.1881, 14.8.1881, 5. Oktober 1881, 21. April 1882, 19. Juli 1882 und 17. November 1882
[31] Dem entspricht folgende Aussage, deren hochmütiger Gestus missfallen mag, die aber objektiv richtig ist: „[...] es liegt tatsächlich eine enorme Ungeschicklichkeit darin, ohne Übergang den Sklaven zum Herrn zu machen, so durchaus abhängig erzogene Wesen plötzlich mündig zu erklären.“ (S. 159)
[32] Dieser Onkel schwebt wie eine mythische Figur über der gesamten Romanhandlung; Ulla erwähnt ihn mehrmals, versorgt uns aber niemals mit näheren Informationen. Immerhin muss der Onkel derart einflussreich gewesen sein, dass er Dom Pedro II. persönlich gekannt hat. Der Kaiser erkundigt sich bei Ulla nach ihm, als sie ihm auf dem Empfang in São João del Rei vorgestellt wird. (vgl. S. 47)
[33] Marly Ritzkat stellt fest, dass europäische Brasilien-Reisende im 19. Jahrhundert in der Regel von der Schönheit der Natur schwärmten, vom Chaos der Städte aber abgestoßen würden (vgl. Ritzkat 1999, S. 16). Dies sei verständlich, da zumal in Rio de Janeiro sehr unhygienische Zustände geherrscht hätten: „Não houve um sistema eficiente de abastecimento de água e o mau cheiro e a sujeira estavam por toda parte.“ (S. 61)