Bild und Gegenbild – Brasilien im Werk Hugo Loetschers

Adelaide Stooss-Herbertz
Lucie Stooss


1 Einleitung
2 Leben und Werk eines Wanderlustigen
3 Hugo Loetscher – ein Grenzgänger und sein Brasilien
4 Ausblick
Anmerkungen

ABSTRACT

Brazil is a popular writing subject. Its representation is full of varieties and reaches from "exotic country", "the land of the future", "paradise", "the unknown country" to a reputation of being underdeveloped with its inhabitants living in misery. Hugo Loetscher, an important contemporary Swiss writer, defined Brazil as a place of encounter with the enemy, i.e. another culture, nature or with himself: a discovery of the consequences of colonialism and the search for a new proper identity. This article focuses on the image of Brazil in Loetscher's work, trying to get to know Brazil as a place in German literature that offers a possibility for an intercultural dialogue.

Keywords:Hugo Loetscher, Brazil, intercultural literature,swiss literature.


1 Einleitung


Brasilien gehört zu den am meisten beschriebenen fremden Ländern der deutschsprachigen Literatur. Als exotisches Paradies in der Reiseliteratur Richard Katz, als Bild des Zukunftslandes in Stefan Zweigs Werk oder auch nur als ein Kindertraum, wie in Christoph Ransmayrs Roman Morbus Kitahara (1995), entpuppt der brasilianische Raum sich als ein Gegenort für die eigene Realität Europas. Nicht immer als positives Gegenbild, oft auch als Hölle gezeichnet: die unbesiegbare Natur, die Wildnis, Armut und sozialen Unterschiede prägten auch dieses Bild. Das Thema dieser Arbeit ist nicht neu in der Literaturwissenschaft, wichtige Beiträge bieten uns Sérgio Buarque de Holanda in seinem Visão do paraíso (1959), Celeste H. M. Sousa in Retratos do Brasil. Hetero-imagens literárias alemãs (1996), Laura de Mello e Souza in O diabo e a Terra de Santa Cruz (1986) oder Flora Süssekind in ihrem O Brasil não é longe daqui (1990), um nur einige zu zitieren. Doch wie entwickelte sich das Bild Brasiliens in den späteren Schriften des XX. Jahrhunderts? Ausgehend von dieser Frage beschäftigt sich dieser Artikel mit einem Werk, das in der Schweiz Brasiliens Bild prägte; Wunderwelt: eine brasilianische Begegnung (1969) ist eines der bekanntesten Werke des Zürcher Schriftstellers Hugo Loetscher. Der Roman hat als Schauplatz die kleine Stadt Canindé im Nordosten Brasiliens und stellt die Begnegung eines fremden Europäers - der Erzähler stellt sich selber als der Fremde vor - mit den Mythen, der Realität, den Menschen und der unbekannten Kultur dar.

Hugo Loetscher gehört zu den am besten mit Brasilien vertrauten deutschsprachigen Schriftstellern, gewagter könnte man ihn sogar als Brasilianisten bezeichnen. Er kennt und versteht das Land auf literarischer, politischer und sozialer Ebene, was sich in seinen Arbeiten wiederspiegelt. Der Autor widmete dem Land eine Vielzahl literarischer und journalistischer Texte, die zu einem interkulturellen Dialog einladen. Sowohl die Perspektiven seiner Figuren als auch deren Sprache zeigen, dass er sich intensiv mit Brasilien auseinandergesetzt hat. Bisher wurde jedoch nur seine Erzählung „Die Entdeckung der Schweiz“[1] ins Portugiesische übersetzt und sein Werk weckte noch wenig das Interesse der brasilianischen Forschung. Doch verzichtet man auf kolonialistische und antikolonialistische Vorurteile, die oft bei der Bearbeitung ausländische Literatur über Brasilien eine Rolle spielen, entdeckt man in der Literatur Hugo Loetschers und in der Intertextualität zur brasilianischen Literatur einen wirklichen Ort des Kulturaustausches.

2 Leben und Werk eines Wanderlustigen

Hugo Loetscher wurde 1929 in Zürich, wo er noch heute lebt, geboren. Sein Vater war ein Mechaniker aus dem Entlebuch und seine Mutter Deutsche. Aufgewachsen ist er in einem Arbeiterviertel weitab von dem Zürich, das uns von den Medien präsentiert wird. In seiner Kindheit, so der Autor, habe er zwei Zürichs gekannt: Das eine am Ufer der Limmat und das andere am Ufer der Sihl, wo sich die einfacheren Viertel der Stadt befinden. Die Sihl war die erste Grenze, die er überschritt. Er studierte Wirtschaftsgeschichte, Soziologie und Philosophie an den Universitäten Zürich und Paris. 1956 beendete er seine Studien mit der Dissertation über Philosophie und Politik Der Philosoph vor der Politik. Ein Beitrag zur politischen Philosophie, illustriert an der neueren politischen Philosophie Frankreichs. Nach seinem Abschluss arbeitete Hugo Loetscher als Journalist und Literaturkritiker für die Neue Zürcher Zeitung und für die Zeitschrift Weltwoche. 1958 begann er in der Redaktion der Kulturzeitschrift Du zu arbeiten, wo er bis 1962 tätig blieb.

Mit 35 Jahren schrieb er seinen ersten erfolgreichen Roman: Abwässer. Ein Gutachten (1963). Dafür wurde er mit dem Charles-Veillon Literaturpreis ausgezeichnet. Die Thematik des Romans erregte Aufsehen, denn die Stadt und die Gesellschaft von Zürich werden durch die Augen des Abwässerinspektors betrachtet. Anhand dieser etwas anderen Perspektive werden die Klassenunterschiede der 60er Jahre verdeutlicht und kritisiert. Noch im selben Jahrzehnt folgen andere Romane: Die Kranzflechterin (1964) und Noah. Roman einer Konjunktur (1979). Ersterer erzählt die Geschichte einer Emigrantin aus Süddeutschland, die ihr Leben in der Schweiz durch das Flechten von Beerdigungskränzen finanziert. „Jeder muss ein Recht auf seinen Kranz haben.“[2] Dies sind Worte von Anna, der Protagonistin. Im Zweiten, wie es der Untertitel „Roman einer Konjunktur“ vorausahnen lässt, prophezeit Noah, der Protagonist, wie sein biblisches Vorbild, eine Überschwemmung und baut sich eine Arche. Die Gesellschaft um Noah fühlt sich durch die Arbeit fest und sicher im Leben verankert, die Stadt wächst, die Wirtschaft floriert. Doch falls Noahs Voraussage sich bewahrheitet, wird er der einzige Überlebende sein. Der Protagonist rechtfertigt seine Prophezeiung folgendermassen: “Also habe ich die Gesellschaft beobachtet, und es gab nur einen Ausweg: Lass es regnen.“[3] In seinen ersten Werken lässt sich der scharfe Blick, den der Autor auf die Gesellschaft und ihre Maschinerie wirft, beobachten.

Wer sich mit Hugo Loetschers Leben und Werk befasst, wird bemerken, dass die Reisen den Autor und seinen Schreibstil stark geprägt haben. Der Journalismus und der Erfolg seines ersten Romans haben dem Autor einige Auslandsaufenthalte ermöglicht. So besuchte er Italien und auch Griechenland, wo er während einem Jahr (1963) als freier Schriftsteller arbeitete. Portugal war das nächste Ziel, welches der Autor sich für einen längeren Aufenthalt ausgesucht hatte. Als man ihn nach den Motiven für diese Wahl fragte, antwortete er, es sei grösstenteils „Zufall“[4] gewesen, aber auch eine gewisse Faszination für Länder am Rande Europas. Doch auch die gespannte Situation im Portugal der 60er Jahre darf nicht ausser Acht gelassen werden: Die manipulierten Wahlen von 1958, der daraufhin ins politische Exil geschickte Kandidat der Opposition, General Humberto Delgado, Verfolgungen von Kommunisten und anderen, die gegen die Regierung protestierten. All das hat die politischen Debatten im Land zugespitzt und auch den Druck von Aussen auf die Regierung erhöht. In diesem Klima kam der Autor zum ersten Mal mit der portugiesischen Sprache in Kontakt - es war eine von Konflikten geprägte Begegnung.

Aus seinen Erfahrungen in diesen Monaten entstand der Film Ach, Herr Salazar (1965). Mit der Unterstützung des schweizerischen Fernsehens wurde der Film umgesetzt, der besonders von dem dazugehörigen Text des Schweizer Autors, der durch seine kritische und ironische Sicht auf die damalige Diktatur gezeichnet war, geprägt wurde. Die Konsequenzen blieben nicht aus: Der Film wurde in Portugal nicht gezeigt und dem Autor wurde seine Aufenthaltsbewilligung entzogen. Auch der Schweizer Fernsehsender verzichtete eine Stunde vor Sendebeginn aus diplomatischen Gründen auf die Austrahlung. Dies verhalf dem Film zu einem polemischen Status und der Autor gewann an Ansehen. Der Text wurde erst 1971 im Band Dieses Buch ist gratis veröffentlicht. Der dazugehörige Film, dem der Autor keinen grossen künstlerischen Wert zuspricht, wurde nie gezeigt und ist in den Archiven des Fernsehens verschollen.

Der erste Text portugiesischer Sprache, den der Autor gelesen hat, war von Antonio Vieira und beeinflusste den Autor in der Wahl seines nächsten Reisezieles: Brasilien. Da ihm Portugal von nun an verschlossen blieb, begab sich Hugo Loetscher 1965 auf den Spuren des kolonialen Schriftstellers Antonio Vieira in das ferne Land. Er bereitete eine Übersetzung der Predigt des heiligen Antonio an die Fische vor und editiert diese 1966. Der Text überzeugt durch seinen kritischen Ton dem portugiesischen Kolonialismus gegenüber, aber auch durch den Stil: „Vieira bot ein Beispiel dafür, wie Moralität und stilistische Verantwortung eine gültige Verbindung eingehen.“[5]

Mit dem anfänglichen Ziel, die Orte, an denen Pater Antonio Vieira gearbeitet hatte, zu besuchen, bereiste Hugo Loetscher Brasilien. Dieser Besuch verwandelte sich aber schnell in Arbeit, denn der Autor wurde in Brasilien als Journalist tätig. Sein Posten als Chefredakteur bei der Weltwoche ermöglichte ihm, die Hälfte des Jahres im Ausland zu verbringen. Er bereiste mehrere Länder Südamerikas und auch Afrikas. Zu den herausragenden journalistischen Arbeiten aus dieser Zeit zählt der Artikel „Reise in die Negritude“, in dem er das erste Festival der Negro Kunst in Dakar kommentiert. Hinzu kommt die Serie von Reportagen über das Land des ewigen Kommunismus, „Kuba, die Revolution in der Blockade“, die wöchentlich in der Weltwoche veröffentlicht wurden und die er 1969 im Buch Zehn Jahre Fidel Castro. Reportage und Analyse herausgab und sowie auch eine Reihe von Essays, Reportagen und Artikel über Brasilien. Der Autor war insgesamt 14 Mal[6] in Brasilien, jedes Mal für die Dauer von einigen Monaten. Zuerst lernte er Rio de Janeiro und Bahia kennen, später wendete er sich dem Innern des Landes zu: von Iguatú in Ceará bis hin zu den Missionen in Rio Grande do Sul bereiste er das Land. Mit der Zeit erlangte er in journalistischen Kreisen den Status eines Lateinamerika-Experten. Doch während seinen Brasilienreisen findet er auch Zeit für literarisches Schaffen, wie wir später sehen werden.

Beim Vergleich von Loetschers journalistischen und literarischen Texten benutzt Jeroen Dewulf[7] den Begriff der Komplementarität. Die Themen, die journalistisch bearbeitet werden, kehren in literarischen Werken wieder. Dewulf zeigt als Beispiel die Trockenheit in Nordosten von Brasilien, die im journalistischen Text „Die Seca - eine Katastrophe mit Tradition“ (1970) behandelt wird und im Romann Wunderwelt das zentrale Thema ist. Seine literarischen und journalistischen Texte ergänzen sich aber nicht nur inhaltlich, sondern auch formal: der ironische und kritische Stil wird durch die einfache und klare Sprache ergänzt. In den Studien von Dewulf, die vom Peter-Lang-Verlag unter dem Titel Hugo Loetscher und die portugiesischsprachige Welt. Werdegang eines literarischen Mulatten (1999) herausgegeben wurden, findet sich auch eine Liste der journalistischen und literarischen Texte, die der Autor von 1953 bis 1998 veröffentlicht hat. Diese Sammlung, die für die zukünftige Forschung von grosser Bedeutung ist, verzeichnet auch ungefähr hundert Texte, in welchen sich der Autor mit Brasilien auseinandersetzt. In der folgenden kurzen Übersicht über Loetschers zahlreiche brasilienbezogene Texte stützen wir uns auf das oben genannte Werk von Jeroen Dewulf und auf Die Romane Hugo Loetscher im Spannungsfeld von Fremde und Vertrautheit (1995) von Romey Sabalius. Zu den literarischen Werken, in welchen Brasilien eine Rolle spielt gehören die Romane Der Immune (1975), Wunderwelt (1979) und Die Augen des Mandarin (1999).

Das ganze literarische Schaffen des Autors begrenzt sich aber nicht in der Thematik Brasiliens. 1979 und 1980 lebte der Autor für einige Monate in Los Angeles, wo er Herbst in der grossen Orange (1982) verfasste. Dem folgen mehrere Romane: Die Papiere des Immunen (1986), Saison (1995) und Der Buckel (2002). Zudem veröffentlicht er auch Erzählungen: Die Fliege und die Suppe (1989) beinhaltet 34 Fabeln und wird von Der predigende Hahn (1992), einer Studie über die Tiere und ihre literarische Funktion in ausgewählten Fabeln, ergänzt. Als bekannter literarischer Kritiker verfasste Hugo Loetscher auch eine Reihe von Essays und Diskursen. Unter den Bekanntesten sind die Essays, die in den Bänden Lesen statt klettern. Aufsätze zur literarischen Schweiz (2003) und Vom Erzählen erzählen (1988) versammelt sind. In den Essays erzählt der Autor vom poetischen Schaffen und seinem Beruf. 2004 werden die Leser von Loetscher von neuem überrascht, diesmal mit dem Gedichtband Es war einmal die Welt. Während seiner Karriere wurde der Autor mit diversen literarischen Preisen geehrt. Ausser dem bereits erwähnten Charles-Veillon-Preis (1964) gewann er 1972 den Literarischen Preis der Stadt Zürich, 1985 den Schillerpreis der Kantonalbank Zürich und den Grossen Schillerpreis der Schweizerischen Schillerstiftung. In Brasilien bekam er 1994 den Preis „Ordem do Cruzeiro“ für sein Werk über Brasilien.

Die Werke des Autors sind Gegenstand von mehreren Dissertationen und Studien an den Universitäten in der Schweiz, Deutschland und Portugal (Universität von Porto). Die wegweisendsten Studien und Berichte zum Werk des Autors wurden von Jeroen Dewulf und Rosmarie Zeller im 2005 vom Diogenes Verlag veröffentlichten Buch In alle Richtungen gehen. Reden und Aufsätze über Hugo Loetscher versammelt. Unter den Autoren des 20. Jahunderts zählt Loetscher zu den Vorläufern der postmodernen Literatur der deutschen Sprache. Durch den Einbezug von politischen Themen in seine Werke sind sie Beispiele einer engagierten Literatur. Der Autor zeichnet sich zudem durch das Überschreiten von Grenzen, das Leben zwischen bekannter und unbekannter Welt aus. Die konstante Erfahrung von Befremdung im Unbekannten wird zum Kern seiner literarischen Werke, wie Romey Sabalius in seiner Studie Die Romane Hugo Loetschers im Spannungsfeld von Fremde und Vertrautheit (1995) schreibt.

In Brasilien hat nur Celeste H. M. Ribeiro de Sousa die Werke von Loetscher in ihrer Studie Retratos do Brasil. Heteroimagens literarias alemas (1996) untersucht. In ihrem Buch zeigt die Autorin unterschiedliche Bilder von Brasilien in der deutschen Literatur. Das Werk Wunderwelt wird auf vier verschiedene Merkmale hin analysiert: „Irdisches Paradies: solo primordial“, „Irdisches Paradies: tropische Bukolismen“, „Zerstörtes Paradies: locus horridus“ und „Der Brasilianer“. Zu Beginn entlarvt die Autorin eine Vorstellung, die nicht dem Paradiesischen entspricht: das Bild des Nordostens, des trockenen und unfruchtbaren Bodens und der Versuchung, die paradiesische Vorstellung von Brasilien zu widerlegen. Im Anschluss an dieses entmystifizierte Bild stellt die Autorin fest, dass der Nordosten, wie er in Wunderwelt dargestellt wird, sich in eine produktive Region verwandeln könnte. Der Ursprung der Misere wäre dieser Sichtweise nach nicht die Unfruchtbarkeit des Bodens, sondern die Agrarpolitik und vor allem die Haltung der dortigen Bevölkerung, der Nordestinos. Um ihre These zu bestärken, verweist die Autorin auf die Stellen in Wunderwelt, in denen die Geschichte Canudos geschildert wird und stellt ihr das Werk des brasilianischen Schriftstellers Euclides da Cunha und die historischen Fakten gegenüber.

Das Werk könnte laut Ribeiro de Souza auch „bukolische Landschaften in den Tropen“[8] genannt werden. Der Autor projiziert das Bild des europäischen Landherrn auf den Nordosten und seine Bewohner als ein mögliches Paradies. Er entwickle in seinem Werk eine paternalistische Haltung, die durch eine Art pädagogisches Denken dargestellt wird, indem der Glaube an die Überlegenheit der europäischen Kultur, die von Brasilien kopiert werden sollte, durchdringt.[9]

Die Analyse von Celeste Ribeiro de Sousa wird von Jeroen Dewulf wahrgenommen. Dewulf kritisiert an erster Stelle den Vergleich eines fiktionalen Textes, wie Wunderwelt einer ist, mit historischen Fakten, denn die beiden Ebenen sind seiner Ansicht nach nicht gleichzusetzen. Des weiteren kritisiert Dewulf die Gegensätze, die Ribeiro de Sousa in Wunderwelt und Euclides da Cunha Os Sertoes zu sehen glaubt: In Loetschers Werk werde der Boden des Nordostens als fruchtbar, in da Cunhas historischer Arbeit hingegen als unfruchtbar dargestellt. Die folgende Stelle aus Os Sertões zeigt jedoch, dass auch der brasilianische Autor dem Boden Fruchtbarkeit zuspricht: „Es gab von allem etwas, sogar Zuckerrohr konnte man mit den Nägeln schälen, es wuchs gut in diesen Gebieten.“[10] Die Aussage, der Autor vertrete in seinem Werk eine paternalistische Position Brasilien gegenüber, die auf ein europäisches Überlegenheitsgefühl zurückschliessen lasse, sind laut Dewulf das Resultat von Unkenntnis der Forscherin. Sie habe das Werk des Autors aus dem Kontext gezogen und den Text, wie bereits erwähnt, wie ein historisches Dokument behandelt.

In den folgenden Kapiteln der Arbeit von Ribeiro de Sousa werden noch zwei weitere Bilder analysiert: Das Bild der brasilianischen Städte und das des Brasilianers, des Nordestinos. In Wunderwelt sind die Städte Canindé, Juazeiro do Norte und Fortaleza Orte der Handlung. Diese Orte zeigen den Gegensatz zwischen den natürlichen Reichtümern des Landes und der Misere, welche der Brasilianer daraus macht; es ist das Bild eines zurückgebliebenen Bewohners Nordostens, aus Not wird aus ihm ein vorübergehende Nomade. Für die Autorin zeugt die poetische Bürde von einer Spannung zwischen dem Wundervollen und dem Elenden. Die Zweideutigkeit des Wortes „Wunder“ lässt den Leser einerseits an die religiösen Wunder, die im Alltag des „Nordestinos“ stets präsent sind, andererseits aber an die modernen Wunder ökonomischer Art, welche die Eliten der Regierung veranlasst haben, denken. Von dieser Doppeldeutigkeit wird auch die Ironie, die das Werk durchzieht, getragen.

Die Polemik wird durch die verschiedenen Ebenen des Werkes ausgelöst: einerseits ist es ein realitätbezogenes Werk, das Bild des toten Mädchens vom Fotograf Willy Spiller bestätig die Ausgangsituation als Realität, anderseits bestätigt uns der Dialog mit dem toten Mädchen die Fiktion. Das komplexe Werk lebt von Ironie, einer einfachen Sprache und intertextueller Kommunikation mit brasilianischen Texten, hauptsächlich der „Literatura de Cordel“. All dies prägt die Dialoge des Erzählers mit der kleinen, schon verstorbenen Fatima und macht Wunderwelt zu einem provokativen Werk für den brasilianischen Leser, aber auch für den europäischen, indem er mit den Folgen des Kolonialismus konfrontiert wird. Die Prosa Loetschers ist gezeichnet von seinem politischen Engagement, seiner Haltung zum Kolonialismus sowie dessen Konsequenzen im 20. Jahrhundert und der Reflexion über die brasilianische Kunst. Eine Lektüre seiner Werke, die Brasilien als Schreibobjekt enthalten, sollte die Möglichkeiten einer sozialen Kritik, sowohl im brasilianischen wie im schweizerischen Kontext, und im Spannungsfeld des Utopiebegriffs, Erwartungen des Reisendens vor der Begegnung mit dem Fremden und als Gegenbild zu den Erwartungen und zur Geschichte, in betracht ziehen.

3 Hugo Loetscher – ein Grenzgänger und sein Brasilien

Hugo Loetschers erster Brasilienaufenthalt war während des Carnevals von 1965, ein Jahr nach dem Militärputsch von 1964. Die politische Spannung, die noch immer in der Luft lag, ging auch am Autor nicht spurlos vorbei. Im Gegensatz zum österreichischen Schriftsteller Stefan Zweig, der während der Vargas Regierung in Brasilien lebte, hat sich Loetscher nicht von der märchenhaften Umgebung Rios verzaubern lassen und auch nicht die Augen vor dem beginnenden Militärregime verschlossen. Doch der Carneval der Cariocas hat ihn beeindruckt und fand einen dauerhaften Platz in seinen Texten, die auch die politische Spannung jener Zeit wiedergeben. Dies zeigt sich schon in seinem ersten Artikel „Demokratie im Samba- Schritt“, der in der Zeitschrift die Weltwoche am 19. März 1965 erschien. Darauf folgt eine Serie von Reportagen, die von März bis Oktober veröffentlicht wurden: Das politisierte Militär, das Volk und seine Revolutionäre sowie die Demokratie, ein Thema, das sich später in „Ein Staatsreich demokratisiert sich. Brasilien ein Jahr nach der Revolution“ wiederholt, werden diskutiert. In der oben genannten Reportage über die Demokratisierung ist die zu Beginn diskutierte Begebenheit der Aufstand von 1964 zwischen Revolution und Militärputsch. Das, was darauf folgt, trägt laut dem Autor die Zeichen einer Diktatur. Ein anderes Interesse des Autors, das ihn auch schon während seiner ersten Reise beschäftigte, ist die brasilianische Literatur, die er im kurzen Artikel „Vamos ao teatro: Publikum, Theater und Autoren in Rio de Janeiro“ behandelt. Dieser Text wurde im August 1965 in der Weltwoche veröffentlicht.

Brasilien war laut Loetscher in den 60er Jahren noch kein Thema in den Schweizer Nachrichten. Es war daher nötig, die Herausgeber und Kollegen davon zu überzeugen, dass dieses Land mehr als Samba ist. Aber bevor die Leser informiert werden konnten, musste der Informierende das Land kennen lernen. Über die Gegenstände seines Schreibens schrieb der Autor 1984 im Artikel „Unterwegs in meinem Brasilien“[11] :

Sein Blick galt der Komplexität, die aus der Beziehung zwischen Geschichte und Aktualität entsteht, Momenten, in welchen sich Politik und Kultur finden und gegenseitig ergänzen, er galt dem Alltagstrott, moralischen Werten, individuellen Perspektiven und dem vorherrschenden Recht. Loetscher war nicht der „Newsman“ im Dienste einer Zeitung: wenn es von grösserer Notwendigkeit über die Konstruktion von Brasilia zu berichten war, waren auch Berichte über das Konstrukt der moderner Architektur in den sich ausbreitenden Favelas gefragt. Bevor man über eine Gesellschaft und ihre Strukturen schreiben konnte, war es nötig, von einzelnen Personen und Schicksalen zu erzählen, so wie dem des Künstlers Emanoel Araujo, des Abdias do Nascimento oder der kleinen Fatima.

Hugo Loetscher hatte es sich zur Aufgabe gemacht, über die Realität zu sprechen, über das Brasilianische. Er wollte von innen her einen Blick in das System und seine Gesellschaft werfen. Doch auch Loetscher zeichnete in seinen Artikeln, vor allem in den Artikeln über Bahia und die Stadt Salvador, ein pittoreskes Bild von einer Rassendemokratie, wie sie schon von Zweig gezeigt wurde. Aus den Reisen in den Jahren 1966/67 ging eine Spezialausgabe der Zeitschrift Du hervor, worin sich der Artikel „São Salvador da Bahia de Todos os Santos“ befand. Romey Sabalius[12] wählte diesen Text um die verschiedenen Perspektiven, die der Autor in seinem Schreiben über Brasilien einnimmt, zu verdeutlichen. Sabalius konstatiert im Werk des Autors eine Entwickung in drei Schritten: Von der Sicht des europäischen Kolonialisten über den Blick eines kritischen, in die neue Umgebung aufgenommenen Fremden bis hin zu einer Selbstkritik eines europäischen Postkolonialisten. Der oben erwähnte Text von Loetscher zeigt das Bild einer brasilianischen Gesellschaft, die nach dem Motto: „Wir sind alle Brasilianer“ lebt. Für diese Rassendemokratie, wie sie vom Autor unter starkem Einfluss des Antropologen Gilberto Freyre dargestellt wird, bietet Bahia, oder besser, die Stadt Salvador de Bahia, sich als eindeutigstes Beispiel. Laut Sabalius ist in diesen ersten Texten dem Autor nicht aufgefallen, dass diese rassische Gleichheit nicht Demokratie, sondern koloniale Oberherrschaft bedeutet: die portugiesische Sprache ist nicht ihre eigene, und die verschiedenen Rassen sind Resultat der sexuellen Erkundung dunkelhäutiger oder indianischer Frauen. In der Auswertung von Sabalius überschreitet der Text nicht die kulturellen Grenzen des weissen und europäischen Mannes, der einer Art von tropischer Verzauberung verfallen war, die den neokolonialen Schriften eigen ist. Dies erklärt auch, weshalb der Autor selbst diese Texte später als „schwärmerisch- poetisch“[13]

Die Konfrontation mit den vielen Seiten Brasiliens, mit anderen Intellektuellen und anderen Künstlern, die dem Autor ein weniger stilisiertes Bild des Landes vermittelten, war unausweichlich. So konnte er sich ein realistischeres Bild fern von Gilberto Freyres Casa-Grande e Senzala bilden, welches der brasilianischen Geschichte und Aktualität mehr entsprach.

1969, nachdem der Autor ein Jahr in Paris verbracht hatte, verliess Hugo Loetscher die Weltwoche wegen ideologischen Differenzen und kehrte nach Brasilien zurück. Der Autor beginnt mit dem Einleitungstext zum fotographischen Essay Brasilien von Fulvio Roiter (1969). Neben Texten von Antonio Callado, Jorge Amado und Sérgio Buarque de Holanda beinhaltet das Buch Aquarelle von Carybé und Fotos von Fulvio Roiter. Der Text von Loetscher sticht nicht von dieser Einheit ab. Da er der einzige Ausländer unter den von Roiter auserkorenen Schriftstellern ist, die gewählt wurden um in diesem Band Brasilien als Land vorzustellen, ist diese Tatsache mehr als bemerkenswert. Laut Jeroen Dewulf ist dies der erste Text, in dem Loetscher versucht, Brasilien durch eine kritische Sichtweise zu zeigen. Wenn man diesen Text mit den früheren Reportagen über Bahia vergleicht, kann festgestellt werden, dass die Frage der Rasse in einem anderen Licht gesehen wird, nämlich aus der Perspektive des Dunkelhäutigen und des Indianers. Neben Gilberto Freyre bezieht sich der Autor auf Soziologen wie Thales de Azevedo, Florestan Fernandes und Octavio Iannin. Ein Beweis dafür, dass die Rassendemokratie als solche nicht existiert, sind für Loetscher die Werke von Aluizio Azevedo und Lima Barreto: „Das sind literarische Zeugnisse dafür, dass die Rassendemokratie keineswegs hundertprozentig verwirklicht ist.“[14]

Noch radikaler ist seine Kritik im Bezug auf die in brasilianischen literarischen Texten thematisierte Indianerfrage. Er kritisiert von den Werken des brasilianischen Arkadismus von Santa Rita Durão, Basílio da Gama über den indianischen Romantismus bis hin zur Woche der Modernen Kunst, dessen Motto “Tupi or not Tupi.“ lautet. Der Autor sieht den Indianer nicht als integriertes Mitglied der brasilianischen Gesellschaft, sondern als Vorzeigeobjekt, wenn es darum geht, den kulturellen Unterschied zwischen der brasilianischen und der europäischen Kultur zu betonen.

Der Rassismus wird vom Autor den Klassenunterschieden zugeordnet und stellt somit einen sozialen Rassismus dar. Trotz der Kritik an der kolonialen Vergangenheit und der Realität ist das neue Gesicht von Brasilien doch nicht frei von Hoffnung, wie dies schon bei Stefan Zweig der Fall war. Die Frage nach der Intertextualität des oben genannten Artikels, der den Titel „Zur Zukunft verurteilt“ trägt, mit Stefan Zweigs Brasilien, Land der Zukunft wird von Jeroen Dewulf erörtert. In einem Interview erzählt der Autor, dass er das Werk damals noch nicht gelesen, jedoch dem Titel nach gekannt habe. Der Schwerpunkt seines Textes sei eher vor dem Begriff der „Verdammung“ als vor dem von Zweig besprochenen der „Zukunft“ anzusiedeln. Die Zukunft wird bei Zweig als unvermeidbare Konsequenz dargestellt. In seinem Text ist die Zukunft ein Ziel, etwas, das sich ereignen muss und das mit einer der brasilianischen Gesellschaft eigenen Originalität verknüpft ist. Die Originalität wird hier als das, was Brasilien durch den vom diktatorischen Regime geförderten Fortschritt verloren hat, angesehen.

Der Perspektivenwechsel in den journalistischen Texten von Hugo Loetscher hat nach Dewulf zwei Gründe: die Dürre und die politischen Veränderungen im Land. Bald nach der Veröffentlichung seines Textes über Bahia entdeckte er eine neue Realität, die sich als Kern seiner Beschäftigung mit Brasilien entpuppen wird: die Trockenheit. Der Autor begab sich 1967, ein Jahr vor seinem Paris-Aufenthalt, nach Brasilien und lernte das Innere des Nordostens kennen. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten sich seine Brasilien Reisen auf die grossen Zentren beschränkt: Rio de Janeiro, São Paulo, Salvador und die Staate Minas Gerais und Paraná. Er hatte somit die ökonomisch entwickelteren Orte besucht. Ein anderes Motiv für seinen Perspektivenwechsel, immer noch nach Dewulf, waren die politischen Veränderungen: 1967 trat eine neue Verfassung in Kraft, welche das Militärregime bestätigte und institutionalisierte. Der General Artur da Costa wurde indirekt von der Nationalversammlung zum Präsidenten gewählt und die Opposition wuchs im ganzen Land. Die Regierung griff mit harten Mitteln ein: Zensur, Verfolgungen, Repression, Gefangennahmen und Folterungen. Dieser Zustand erreicht seinen Höhepunkt im Dezember 1968, als die Regierung den „Ato Institucional Numero 5“ ausruft.

Der Rassismus, die Armut und die Trockenheit im Nordosten stellen nun reale Probleme für den Autor dar und werden in mehreren seiner Texte der 70er und 80er Jahre behandelt. Der Rassismus ist ein zentrales Thema in „Zur Zukunft verurteilt“ und wird nach seiner Begegnung mit Abdias do Nascimento im Artikel, der 1984 im Tages Anzeiger Magazin veröffentlicht wird, „Dem Schwarzen seine weissen Träume nehmen. Der Afro-Brasilianer Abdias do Nascimento“ von Neuem erörtert. Die Trockenheit hat in Loetschers Werk eine eigene Geschichte.

Der erste Artikel, in welchem die Trockenheit im Nordosten und ihre Konsequenzen der zentrale Gegenstand sind, stammt vom September 1967 und trägt den Titel: „Reise in die süsse Hölle“. In den folgenden Jahren ist die Trockenheit zwischen Themen wie der Hinterhof Literatur [Literatura de cordel], der wiederholten Behandlung der Demokratie und dem Fortschreiten der Militärdiktatur, Amazonien und der Konstruktion der Transamazonica ein unverzichtbares Thema. So entsteht 1970 der Artikel „Die Seca – eine Katastrophe mit Tradition“. Darauf folgen 1972 „Das brasilianische Wunder I.“ und „Das brasilianische Wunder II.“, 1975 „Notstandgebiet Nordosten“. 1976 und 1978 setzt sich Loetscher mit „Seca – Literatur“ auseinander, indem er sich mit Cabral de Melo Neto Morte e vida Severina und Graciliano Ramos‘ Vidas secas beschäftigt. Schliesslich findet das Thema 1979 in seinem eigenen fiktionalen Werk Wunderwelt. Eine brasilianische Begegnung einen Platz. Im Artikel „Die Seca – Eine Katastrophe mit Tradition“ zeigt der Autor ein historisches Panorama seines Themas:

Die Seca ist ein steter Gegenstand der brasilianischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Der Autor stellt dies mit dem für seine Texte typischen ironischen Ton fest. Er sieht in der Literatur die positive Seite dieser Katastrophe mit Tradition. Diese Ironie kann auch auf seine eigenen Werke bezogen werden, so findet die Dürre nicht nur in der brasilianischen Literatur, sonder auch in seinen eigenen fiktionalen Werken ihren Platz.

Die Konfrontation mit dem wirtschaftlichen Fortschritt in Brasilien war laut Dewulf eine der grossen Enttäuschungen für den Autor bei seiner Rückkehr in den 70er Jahren. Im Text „Bahia und die Elektrizität“ geht der Autor vom Bild der Hochstromleitungen aus, die nun den Nordosten mit Energie beliefern und die Kakteen des Landesinnern ersetzen. Er sieht die Industriekonstruktionen, die auf einem Platz gebaut werden, genau wo früher Banditen und Bänkelsänger sich trafen, um den Fortschritt zu kritisieren. In diesem Text sind noch Spuren jenes romantischen Blickes zu finden, welcher der Autor auf die fremde Kultur warf. Er ist noch von der Verlockung des Exotischen, den die neue Kultur auf den Reisenden aus Europa ausübt, geprägt. Diese Gegenüberstellung war notwendig, um Brasilien kennen zu lernen, und sie wird sich in eine neue Art, das Exotische zu sehen und zu beschreiben, verwandeln. Diesen Perspektivenwechsel können wir vor allem in seinem nächsten Roman Der Immune (1975), in dem ein brasilianisches Kapitel zu finden ist, beobachten. Jeroen Dewulf und Romey Sabalius sehen Der Immune als ein Produkt, das aus dem Bewusstsein der eigenen Fremdartigkeit einerseits und des modernen Menschen, der sich in einer ständig sich bewegenden Welt befindet, andererseits. Dieses Bewusstsein erlangt er, als er seine ersten Eindrücke Brasiliens, wie sie die Leser in seinen ersten Texten vorfanden, mit seiner neuen Vorstellung der brasilianischen Realität, die sich in seinen Texten ab 1967 widerspiegelt, vergleicht.

Der Immune ist ein autobiographischer Roman, deren Hauptperson, die immer nur „der Immune“ genannt wird, das Hauptthema ist. Es ist eine ambivalente Figur, die sich in jedem Kapitel neu entdeckt. Die Tatsache, dass er sich und die andern immer wieder von neuem hinterfragt, entpuppt sich als Verhalten eines Beobachters der menschlichen Grenzen, welche das menschliche Wesen entdeckt, um diese mit einer bewundernswerten Lebensfähigkeit zu erleben. Die letzten Sätze des Romans fassen ihn zusammen:

Die Geschichten und Erlebnisse, welche der Immune dem Leser oder sich selbst erzählt, spielen in mehreren Ländern. Sie handeln von einem Reporter, der auf der Suche nach Themen für sein Schreiben ist. In Bezug auf die Kapitel, die in Südamerika spielen, der Analyse von Sabalius entsprechend, versucht Loetscher, den Prozess der Bewusstwerdung der Befremdung zu beschreiben und in ihrem Kontext zu erhellen. Zuerst wäre ein europäischer Besucher zwingendermassen vom exotischen und der Heterogenität des unbekannten Landes fasziniert. So beschreibt der Autor im Roman zuerst eine abenteuerlich zauberhafte Reise durch den Amazonas, die von den herkömmlichen Vorstellungen der Tropen durchdrungen ist. In den folgenden Kapiteln erkennt er die Realität hinter der tropischen Fassade. Die anfängliche Verführung durch das Tropische ist Gegenstand des Dialogs im Roman:

Der Immune zählt zu den ersten postmodernen Werken der deutschen Literatur. Das Kapitel „Die Entdeckung der Schweiz“, welches auch separat als Märchen veröffentlicht wurde, ist heute einer der bekanntesten Texte von Hugo Loetscher. In diesem Kapitel findet sich die Hauptperson in Bogota wieder, wo ein Kind sie fragt, wer die Schweiz entdeckt habe. Ohne eine Antwort in der Geschichte seines Landes zu finden, kommt dem Immunen die Idee, dass die Schweiz vielleicht noch gar nicht entdeckt worden ist. Er lässt die bolivischen Indios mit ihren Booten den Rhein hinauf fahren bis in seinen Geburtsort und entdeckt so die Schweiz.

Die Reisen nach Brasilien sind nach dem 1979 publizierten Wunderwelt noch nicht abgeschlossen. 1981 bereist Loetscher das Land von neuem und erlangt wieder neue Einblicke. Die langsame Rückkehr zur Demokratie, die mit der Amtszeit von Ernesto Geisel (1974- 1979) begonnen hatte, wurde durch den 1978 errungenen Sieg der MRI, der Partei gegen die Militärs, erneut angekurbelt. 1979 verordnet General João Batista Figueiredo, der damalige Präsident, das Gesetz der Amnestie und erlaubt somit den diversen politischen Parteien wieder aktiv zu werden. Doch nicht alle hatten die gleiche Ansicht, unter dem Namen „die harte Line“ plante ein Teil des Militärs im Untergrund diverse Bombenanschläge auf öffentliche Plätze, um ihre Opposition zu demonstrieren. Im Oktober 1980 kehrt auch Luis Carlos Prestes aus dem Exil zurück und bietet Hugo Loetscher die Möglichkeit einer neuen Begegnung: dem Kennenlernen eines brasilianischen Mythos. Der Autor kannte Prestes aus Jorge Armados Werke und der Biographie Der Ritter der Hoffnung. Loetschers eigene Reportage über Prestes wurde 1981 unter dem Titel „Sekretär der Hoffnung“ im Magazin Transatlantik veröffentlicht. Sie beginnt mit den Worten: „Ich war darauf vorbereitet, einem Mythos zu begegnen, doch ich bin einem Sekretär begegnet.“ Loetscher beschreibt sein Treffen mit Prestes und schildert die Geschichte des Kommunismus aus der Sichtweise des „Sekretärs“. Doch was ihn wirklich in den Bann des grossen Mannes zieht, ist die Ambiguität seiner Persönlichkeit, und die Biographie des grossen Mannes wird zum Angelpunkt der Reportage.

In den 70er Jahren ist die Militärdiktatur ein immer wiederkehrendes Thema in seinen journalistischen Texten und auch in Wunderwelt. Die Kunst, die während der Militärdiktatur geschaffen wird, ist 1974 das Thema einer Serie von Artikeln, die vom Tages Anzeiger unter dem Titel „Kultur und Repression in Brasilien“ veröffentlicht werden. In den Artikeln werden mehrere Komponenten beleuchtet: die Bedingungen der Schriftstellerei und die Publikationsmöglichkeiten in der Zeit der Repression, die Zensur im Theater und das neue Kino. Als Literaturkritiker hat sich Hugo Loetscher immer wieder mit brasilianischer Literatur auseinandergesetzt. Resultat dieser intensiven Auseinandersetzungen sind diverse Interviews und Artikel über Autoren brasilianischer Literatur: Jorge Amado, Darcy Ribeiro, Osman Lins, Euclides da Cunha, Mario de Andrade, Ferreira Gullar, Gregorio de Matos, Machado de Assis und Sergio Buarque de Holanda. Im Dezember 1985 schrieb Loetscher für die Neue Zürcher Zeitung eine Kritik über den von Mechtild Strausfeld geplanten Band unter dem Namen Die brasilianische Literatur. Dieser Band sollte als Ergänzung zum 1976 vom Suhrkamp Verlag herausgegebenen Materialien zur latein-amerikanischen Literatur dienen, wo die brasilianische Literatur nicht berücksichtigt wurde. Im Artikel „Die brasilianische – die andere Literatur Lateinamerikas“ beklagt der Autor die unzureichende Rezeption brasilianischer Texte durch Europäer. Er kritisiert unter anderem die in Brasilianische Literatur gemachte Aussage, dass die brasilianische Literatur in einer Woche unabhängig geworden sei. Dieser Ausspruch bezieht sich zweifellos auf die „Woche der modernen Kunst“. Es wird jedoch nicht berücksichtigt, dass einem solch lauten Wechsel mehrere leise, innere Wechsel vorangegangen sind, die ohne Bezug zur europäischen Avant-Garde unverständlich bleiben müssen. Ein Panorama der brasilianischen Literatur aufzustellen sei für den europäischen Leser ebenso schwierig wie ein Bild des Landes zu zeigen. Diesen zwei Aufgaben stellt sich der Autor im Essay „Das Entdecken erfinden“, der im Buch Brasilien: Entdeckung und Selbstentdeckung (1992), einer Sammlung von Essays und Fotos über Brasilien, einem Katalog, der für eine Ausstellung im Kulturhaus Zürich 1992 über Brasilien ausgearbeitet wurde. Hugo Loetscher stellt Brasiliens Geschichte vom Kolonialismus bis zur zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vor. Laut Sabalius kann man im Text die Bemühungen des Autors erkennen, Brasilien aus den Augen eines Brasilianers zu sehen. Das beste Mittel, um diesen Vorsatz umzusetzen, sah der Autor darin, die Geschichte anhand der brasilianischen Literatur zu erzählen. Aus der Sicht Loetschers entstand Brasiliens Geschichte und Gesellschaft in einer Dialektik zwischen Entdeckung und Selbstentdeckung.

Ohne in die Tiefen von Loetschers Text vorzudringen möchten wir auf zwei mögliche Interpretationen des Titels des ebengenannten Katalogs Brasilien: Entdeckung und Selbstentdeckung hinweisen. Aus der Sicht von Innen her, der Sicht des Brasilianers, können die Entdeckung und Selbstentdeckung als Prozess der Entdeckung Brasiliens verstanden werden. Dies geschah zuerst durch die Kolonisatoren als Entdeckung des geographischen Raumes. Die Kultur des neuen Brasiliens entwickelt sich langsam, die eben erst entstandene brasilianische Gesellschaft entdeckt neue Räume, neue Grenzen und neue Kulturen, von denen bisher noch niemand wusste. Eine andere Sichtweise bietet die des Ausländers. Dieser reflektiert sein Fremdheitsgefühl dem ihm neuen und unbekannten Land gegenüber. Er will Brasilien entdecken, aber gleichzeitig ist es auch ein Selbstentdecken, eine Konfrontation mit den Konsequenzen der Kolonisation, die den Fremden seine eigenen Werte in Frage stellen lässt. So sieht er nicht nur das fremde, sondern auch das eigene Land in einem neuen Licht. Dies ist vielleicht bei Hugo Loetscher der Fall, eine Möglichkeit, die er selbst in Betracht zieht:

In den 90er Jahren folgen noch sporadisch Artikel über Brasilien in verschiedenen Schweizer Zeitschriften und Zeitungen. 1999 nimmt der Autor an einem von der ABRAPA organisierten Kongress an der Universidade Federal de Curitiba teil. Im selben Jahr wird das Werk Die Augen des Mandarins veröffentlicht, wo die Präsenz Brasiliens durch die Figur Gil gegeben ist. Im Mai 2000 publiziert die Zeitschrift Du eine Ausgabe unter dem Titel „Im Sertão. Eine brasilianische Begegnung“. Als Inhalt der Ausgabe war eigentlich die Person Hugo Loetscher vorgesehen, denn er feierte in diesem Jahr seinen 70. Geburtstag. Zufälligerweise stellte jedoch im gleichen Monat die Fotografin Gleice Mere (1972) der Zeitschrift ihr Projekt vor: Sie plante ein fotografisches Essay über den Sertao. Es war auch ein nicht zu vergessendes Jubiläumjahr: 500 Jahre „der Entdeckung“ Brasiliens. So entstand in Zusammenarbeit mit der Zeitschrift Du eine Ausgabe über den brasilianischen Sertão.

4 Ausblick

Wie wir gesehen haben, ist Brasilien weiterhin eines der bevorzugten Themen in Hugo Loetschers Literatur. Um Wunderwelt zu verstehen, dürfen die vielen Brasilienreisen des Autors nicht vergessen werden, die er als Reisender und Journalist, aber auch als Schriftsteller auf der Spur eines Themas, dass ihn in seinen Bann zog, unternommen hat. Zudem ist auf die brasilianische Literatur hinzuweisen, die den Autor ebenfalls beeinflusste, die Literatur des Nordostens und über den Nordosten.

Der Roman Wunderwelt ist in seiner Struktur ein komplexes Werk. Die kurzen Kapitel kann man in drei grössere Teile zusammenfassen: Im Vorfeld steht das erste Kapitel, die Beschreibung des Augenblicks, in dem ein Fotograf ein Bild der Familie von Fatima auf dem Hauptplatz in Canindé macht. Fatima, das tote Kind, ist im Mittelpunkt. Der Einstieg ist von visuellen Elementen geprägt, wie wenn der Erzähler selbst durch das Guckloch der Kamera schauen würde. Der Fremde wird vom Erzähler nur als Fremder vorgestellt. Am Ende des Kapitels, wie auf dem Bild, stehen alle Personen und das Umfeld statisch da. Nach diesem Einstieg wird das, was man die eigentliche Geschichte, die Erzählung, auch der rote Faden dargestellt: ein neuer Erzähler erzählt, jetzt in erster Person, die Reise und wie er in Canindé ankommt, bis er sich selber als der Fremde auf dem Hauptplatz neben dem Fotografen stehend erkennt. Die Erzählperspektive wechselt so noch einmal und wird in den folgenden Kapiteln immer wieder wechseln. Der dritte Teil sind 22 kurze Kapitel, in denen der Fremde Fátima, dem toten Mädchen, ihre eigene Zukunft erzählt, ein Monolog über Canindé, Leute, Glauben, Politik, und die Hoffnung auf bessere Zeiten. Im letzten Kapitel kehrt die Erzählung zurück, der Fremde, wieder in der ersten Person sprechend, erzählt, wie er zum letzten Mal durch die Stadt läuft, und mit einem in der Stadt bekannten Ingineur zu einem Bordell fährt. Der Abschluss der Geschichte ist eine neue Begegnung mit Fatima, jetzt lebend.

Durch die Stimme des Fremden und durch seinen Dialog mit dem toten Mädchen fliessen die verschiedensten Stimmen des Nordostens: der Bänkelsänger auf dem Marktplatz, die Medien, die Gläubigen und Padre Cícero, die Rückkehrer aus den Hauptstädten, die Politiker mit ihren grossen Zukunftsvisionen; der Nordosten in seiner Vielfältigkeit kommt zur Sprache. Es ist durchaus ein kritisches Werk. Aber es ist nicht das einzige Werk des Autors, wir weisen zurück auf den Roman Abwässer, in dem Zürich aus der Perspektive des Abwässerinspektors dargestellt wird.

Unter dem Gesichtspunkt seiner langen und ausgedehnten Arbeit in und über Brasilien, aber auch des sozialkritischen Blickes wollen wir Hugo Loetscher in den Kontext der engagierten Literatur in Brasilien stellen. Wir beobachteten bei ihm zuerst die Perspektive des Fremden, die von utopischen Erwartungen geprägt ist. Indem er das Land und die neuen Erlebnisse auf sich wirken lässt, lernt er das Land kennen und findet seinen Platz in dieser Gesellschaft. Die Realität zeigt sich aus einem neuen Blickwinkel, und das ist die Unmöglichkeit, jene utopischen Vorstellungen zu verwirklichen. Von diesem neuen Standpunkt aus wirft er einen Blick sowohl auf das besuchte als auch auf das eigene Land. Vielleicht sind diese neuen Perspektiven der Sinn dessen, was der Autor das Überschreiten von Grenzen nennt.


Anmerkungen

[1] LOETSCHER, Hugo. A descoberta da Suíça. In: VILLAS-BOAS, Gonçalo. Histórias de encontros e desencontros. Textos narrativos de autores suíços de expressão alemã. Porto: Afrontamento, 1990.

[2] LOETSCHER, Hugo. Die Kranzflecherin. Zürich: Diogenes, 1989. p. 5

[3] LOETSCHER, Hugo. Noah. Roman einer Konjunktur. Zürich: Diogenes, 1967. p. 27.

[4] DEWULF, Jeroen. Hugo Loetscher und die “portugiesischsprachige Welt”. Bern: Peter Lang, 1999. p. 38

[5] LOETSCHER, Hugo. Unterwegs in meinem Brasilien. In: Tages Anzeiger Magazin, 22/23.05.1992

[6] DEWULF, Jeroen. Hugo Loetscher und die “portugiesischsprachige Welt”. Bern: Peter Lang, 1999 Idem p 27-35

[7] Idem p 27-35

[8] SOUSA, Celeste H. M. Ribeiro. Retratos do Brasil. Hetero-imagens literárias alemãs. São Paulo: Arte & Cultura, 1996. p. 88

[9] Idem, p. 89

[10] Apud: DEWULF, Jeroen. Hugo Loetscher und die “portugiesischsprachige Welt”. Bern: Peter Lang, 1999. p. 172

[11] LOETSCHER, Hugo. Unterwegs in meinem Brasilien. In: Tages Anzeiger Magazin. Zürich: Tamedia, 22/23.05. 1992. p. 51

[12] In: DEWULF, Jeroen; ZELLER, Rosmarie. In alle Richtungen gehen. Reden und Aufsätze über Hugo Loetscher. Zürich: Diogenes, 2006. p. 126-128

[13] LOETSCHER, Hugo. Unterwegs in meinem Brasilien. In: Tages Anzeiger Magazin. Zürich: Tamedia, 22/23.05. 1992

[14] LOETSCHER, Hugo. Zur Zukunft verurteilt. In: ROITER, Fulvio. Brasilien. Zürich: Atlantis, 1969. S/p.

[15] Idem

[16] LOETSCHER, Hugo. Die Seca – eine Katastrophe mit Tradition. In: Tages Anzeiger Magazin. Zürich: Tamedia, 24.10.1970. p. 22-31

[17] LOETSCHER, Hugo. Der Immune. Zürich: Diogenes, 1988. p. 445

[18] Idem,p.251

[19] LOETSCHER, Hugo. Der Sekretär der Hoffnung. Begegnung mit einem brasilianischen Helden. In: Transatlantik. Januar 1981. p. 51

[20] LOETSCHER, Hugo. Unterwegs in meinem Brasilien. In: Tages Anzeiger Magazin. Zürich: Tamedia, 22/23.05. 1992. p. 57


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