Emigration und Modernisierung
Deutschlandsaufenthalte der ungarischen Elite im 19. Jh.: Der Fall József Eötvös
recebido em 05/9/2009 e aceito em 02/10/2009
1 Einleitung
2 Sprache und Identität
3 Landschaft und Identität
4 Von der Reform-Ära bis zur Emigrationszeit
5 Die Modernisierung der ungarischen Politikwissenschaft – Eötvös und seine Herrschenden Ideen
6 Die internationale Rezeption der Herrschenden Ideen
7 Eötvös als Förderer der Peregrination nach Deutschland
8 Nationalismus und konservatives Wissenschaftsideal
9 Schluss
ABSTRACT
The study offers a comprehensive overview on the works and activity of József Eötvös, central personality of the 19th-century modernisation of political culture and educational system in Hungary. It also reveals the paradoxical consequences of his efforts, namely the fact that while the first and second generation of Hungarian intellectuals returning home from Germany in the early ’40s and after the Austro-Hungarian Compromise in 1867 successfully contributed to the building of the modern cultural nation, at the end of the century the generation of émigrés chose Germany on purpose to escape the nationalistic institutional framework of Hungarian culture and sciences.
Keywords:Hungary; Germany; Science; 19th Century; Nation-Building.
Der Freiherr József Eötvös (1813–1871), Minister für Cultus und öffentliche Unterricht in den Regierungen 1848 und 1867, war zweifelsohne einer der bekanntesten Emigranten der ungarischen kulturellen und politischen Elite im 19. Jahrhundert, der seine Emigrationszeit in Deutschland verbrachte. Darüber hinaus ist es auch von zentraler Wichtigkeit, dass Eötvös als Minister nach 1867 die allgemeine Orientation der ungarischen Intellektuellen in die Richtung Deutschland weitgehend bestimmte und tatsächlich beförderte.
Die Deutschlandsaufenthalte der jungen ungarischen Intellektuellen im 19. Jh. sind eindeutig für individuelle Unterfangen zu halten, obzwar diese persönliche Entscheidungen größtenteils in jenen Erwartungen wurzelten, die von der kulturpolitischen Elite herrührten. Diese Emigranten, die gewisse Zeit in Deutschland verweilten, hielten ihre intellektuellen Beziehungen mit dem Heimatland aufrecht, sogar, der wahre Sinn ihrer eigenen Aufgabe wurde eben in dieser Vermittlerposition herauskristallisiert.
Wegen dieser individuellen Charakteristik des Exils müssen die jetzigen Fragestellungen, die sich über die Persönlichkeit Eötvös’ konzentrieren, von der Problematik der Massenemigration im 19. Jh. abgetrennt werden. Eine Auswanderung in massenhaften Dimensionen fand nur einmal im 19. Jh. statt, nämlich nach der Niederlage des ungarischen Freiheitskampfes im Spätsommer des Jahres 1849, als mehrere Tausend Teilnehmer des gescheiterten Unabhängigkeitskriegs, mit dem Gouverneur-Präsidenten Lajos Kossuth an der Spitze, nach dem türkischen Reich emigrierten. Die Konfrontation mit einer fremden Zivilisation und sprachlichen Umgebung löste vielmehr kollektive Reaktionen, eine kollektive Psychose aus, und diese Situation warf die Grundfragen der individuellen und kollektiven Identität auf dramatischer Weise und radikal auf.
Mit dem Schicksal der Kossuth’schen Emigration in der Türkei und später in Italien oder in den Vereinigten Staaten sind vielmehr Begebenheiten des 20. Jh. zu vergleichen, wie die Auswanderung nach Amerika während der Weltwirtschaftskrise in den 1930er Jahren oder die Flucht nach Westen nach der Oktoberrevolution im Jahr 1956. Der grundsätzliche Unterschied besteht darin, dass die emigratio Kossuthiana in den 1860er Jahren nach Ungarn wiederkehrte, um aus seinem politischen Kapital in der goldenen Zeit der ungarischen Kapitalismus Nutzen zu ziehen.
Will man von den Deutschlandsreisen der ungarischen Intelligenz im 19. Jh. mit einem historischen Vorbild Parallelen ziehen, so kann die protestantische Peregrination zwecks konfessioneller Studien während der Frühneuzeit in die Frage kommen, die im Allgemeinen von den reformierten Gemeinschaften finanziert wurden.[1] Aus dieser Perspektive besteht die Hauptcharakteristik des 19. Jh. eben darin, dass die Bekanntschaft mit der deutschen Kultur und Wissenschaft, bzw. das Exil als Lebensform in allererster Linie im Interesse von Beförderung allgemein-nationaler sozialer oder politischer Zielsetzungen initiiert, verwirklicht und rechtfertigt wurden. Im Zusammenhang mit diesen Tendenzen wurde auch die materielle Basis dieser Studienaufenthalten aus anderen Quellen gesichert. Die finanziellen Rahmenbedingungen wurden teilweise von der Regierung (z.B. während des zweiten Eötvös’schen Ministeriums) oder von verschiedenen Formen der Privatwohltätigkeit verschafft. Der Anfang, die Blütezeit und der Niedergang dieser Tendenz fielen auf das 19. Jh. Die Jahrhundertwende und die ersten Jahrzehnten des 20. Jh. brachten andere Emigranten mit sich: Das emanzipierte Bürgertum hatte zu dieser Zeit bereits sein eigenes Vermögen, aus den ungünstigen Verhältnissen Österreich-Ungarns bzw. des Horthy-Ungarns seine sprachliche, professionelle oder konfessionelle Identität nach Deutschland hinüberzuretten.
Zur Eötvös’ Zeit boten die Konstellationen von Identitäten kompliziertere Konfigurationen dar, als es im 20. Jh. normalerweise der Fall war. Die Wege und Wandlungen der sogenannten „österreichischen” Identität sind nur eine Seite der Medaille. Darüber hinaus, wie es auch auf Grund der Bekenntnisse von Eötvös bekannt ist, beherrschte er das Deutsche als Muttersprache, gegeben dass seine Mutter, die Baronin Anna Lilien preußischer Herkunft war. Die Familienverhältnisse bestimmten seine Laufbahn wetigehend voraus: Sein Vater, der Baron Ignác Eötvös d. j. als ungarischer Magnat war ein gehorsamer Diener des Herrscherhauses und erfüllte hohe Positionen am Wiener Hof. So ist der junge Eötvös im Anziehungskreis von zwei Sprachen, zwei Kulturen aufgewachsen.
In einem Brief aus der Jugendzeit schrieb er über seine sprachliche Identität wie folgt:
Es waren fremde Stimmen, die die Ohren des neugeborenen Kindes interessierten, es waren fremde Stimmen, die meine erst aufgemachten Lippen stockend aussprachen; meine Muttersprache ist deutsch und ich hatte das Erbe, das jede Mutter sogar ihrem ärmsten Kind hinterlässt, mit meinen eigenen Bemühungen zu erwerben und das Band, das einen jeden an sein Vaterland am stärksten anknüpft, spinne ich mit eigenen Händen. Ist es wenig, was ich besitze, so kann ich sagen, dass es mein Werk ist. [2]
Eötvös wählte die ungarische Nationalität als eine lebenslange Aufgabe. Mit dieser Entscheidung war er keinesfalls allein in seinen aristokratischen Kreisen: auch der spätere Martyrer des Freiheitskampfs, der Graf Lajos Batthyány oder die charismatische Persönlichkeit der Reform-Ära, der Graf István Széchenyi das Ungarische als Fremdsprache, als ein nötiges Kommunikationsmittel ihrer öffentlichen Tätigkeit erlernen mussten. Die sprachliche Wende von Eötvös hatte jedoch eine andere Besonderheit, die in den Magnatenkreisen seinesgleichen suchte: das Streben nach Anerkennung auch im Bereich der ungarischen Literatur. In diesem Hinblick erlebte er eine wahre Identitätskrise, und versuchte die kritische jugendliche Periode, als seine belletristischen Werke aus sprachlicher Hinsicht noch ganz und gar unakzeptabel waren, mit stilistischer Beihilfe seines Freundes László Szalay zu überleben.
Wenn diese Sprachkrise bei Eötvös überhaupt zum Entstehen von literarischen Werken beitrug, so geschah es auf der Ebene eines rein psychologischen Kompensationsprozesses und diese Krise auf der sprachlichen Fassade oder in der sprachlichen Struktur der Werke nicht sichtbar werden durfte. Umso wenig, dass während der 1850er Jahre, als die sprachliche Kompetenz von Eötvös mit seinen thematischen Ansätzen bereits im Einklang war, praktisch alle seine Werke von ihm selbst oder von Anderen überarbeitet wurden, und dadurch jenes stilistische Niveau erreichten, auf dem sie später in der großen Erzählung der ungarischen Literaturgeschichte kanonisiert wurden. Neben seinen Bemühungen, sich auf Ungarisch schriftlich richtig ausdrücken zu wissen, dachte Eötvös immer auf Deutsch. Zeuge ist davon eine Tagebuchaufzeichnung vom Herbst 1870:
Den ganzen Tag habe ich mit meinen Geliebten verbracht und dachte nichts als daran, wie glücklich ich bin. Auch der Himmel war günstig und erleuchtete unseren glücklichen Kreis mit dem schönsten Herbsttag. Ach, wenn es doch immer so bliebe! – dachte ich in mir. [3]
Eötvös thematisierte die Position seines sprachlichen Außenstehens nie. Dagegen widmete er einer anderen Identitätsform, die ihn von den übrigen, auf der ungarischen Tiefebene wohnenden Magyaren distanzierte, mehrere Reflexionen, Erzählungen oder Episoden seiner Romane: und dies ist seine besondere Neigung zu den Bergen. Zweifelsohne gehörte der Ausflug, das Bergsteigen zu den geliebtesten Freizeitaktivitäten der Familie Eötvös. József Eötvös wurde mit zwanzig Jahren – während seiner Auslandsreise – zum leidenschaftlichen Touristen. Während der Emigrationszeit nach 1848 bewanderte Eötvös die Umgebung des Stahrenberger Sees, Salzburgs und Berchtesgadens. In den letzten Jahren seines Lebens verband er, wenn es überhaupt möglich war, die Badekuren immer mit Wanderungen und mit dem Aufsuchen der geliebten Orte.
So ist im Fall von Eötvös auch von einer Landschaftsidentität die Rede, und diese Identitätsform ihn eindeutig an die süddeutschen, Tiroler, Salzburger Bergländer anknüpfte. Auch seine Familienmitglieder waren begeisterte Anhänger des Turismus. Es war sein Sohn Loránd, der Physiker, der die institutionellen Rahmenbedingungen des ungarischen Turismuswesens erschaffte und die auch heute wirkende Bergstation bei der Hauptstadt stiftete. Auf den Spuren der Romane und Erzählungen Adalbert Stifters wie Der Nachsommer und Der Bergkristall, stellte Eötvös in seinen Werken die Landschaft der österreichischen, süddeutschen, Schweizer Berge dar. In einer Erzählung der 1850er Jahre u.d.T. Novelle schrieb er über einen Emigranten, der sich der zivilisierten Landschaft der deutschen Berge, der Gesellschaft der deutschen Bergdörfer vollkommen assimilierte, und trotzdem seine ungarische sprachliche Identität beibehalten konnte. Im Jahr 1870, als seine Lungenkrankheit bereits in einer weiterentwickelten Phase war, nahm Eötvös lieber Abschied von seinen geliebten Bergen, als von der ungarischen Tiefebene und wanderte er in den in der Umgebung von Berchtesgaden, Halbein und Finch liegenden Gebirgen.
In Bezug auf die Kontaktaufnahme mit der deutschen Gelehrtenwelt besteht die Besonderheit der Mitglieder der Eötvös’schen Generation in ihrer systematischen Orientierung in der deutschen politischen und juridistischen Literatur. Sie beabsichtigten die von einer besseren Argumentation in den Modernisierungsdebatten benötigten Mittel und Fähigkeiten zu erwerben, sei es in der Presse, in Broschüren, oder während diätalen Diskussionen. Für die Deutschlandsorientation der geistigen Väter der jungen Reformintellektuellen (eines Ferenc Kazinczy oder Ferenc Kölcsey) waren bevor unsystematische Lektüre mit literarischen Schwerpunkten charakteristisch, und eine Reise nach Deutschland konnte umso weniger in die Frage kommen, denn für sie schien sogar die geistige Hauptstadt Ungarns, Pest, allzu entfernt und allzu entfremdend zu sein.
Eötvös machte keine Deutschlandsreise, obwohl er in den Jahren 1836–1837 einen großen Teil des westlichen Europas, Italien, die Schweiz und Frankreich bereiste. Die Erklärung dieser Tatsache besteht darin, dass den jungen József – „Pepi” – seine Familie auf eine Auslandsreise zuschickte. Gegeben dass er die Sommerferien regelmäßig in Bayern bei seiner Schwester oder an verschiedenen Kurorten im Familienkreis verbrachte, Deutschland war für ihn keinesfalls Ausland.
Die Zeitgenossen und Freunde von Eötvös, István Gorove oder László Szalay konnten sich jedoch die Genüsse eines Studienaufenthalts in Deutschland erlauben. Gorove wohnte während seiner Deutschlandsreise den Vorelsungen des Juristen Karl Mittermaier in Heidelberg bei, während Szalay zum Studentenkeris von Friedrich Gentz gehörte.[4] Sowohl für Gorove als auch für Szalay war es das Strafwesen, das den Schwerpunkt der Studien bildete. Der Kreis ihrer Interessen reichte von den Fragen der Strafgesetzgebung durch die Praxis der Jurisdiktion bis zu den Detailgeschäften des Gefängniswesens. Freilich waren diese Fragen darum so wichtig, weil dadurch allgemeine Anomalien der Gesetzgebung diskutiert werden konnten, und zwar ohne alle Berührung der fest verankerten politischen und sozialen Privilegien. Diese Errungenschaften der neuen Politikwissenschaft während der Reform-Ära wurden von Eötvös in seinen theoretischen Werken bevor 1848, v.a. in seiner Reform, synthetisiert. Die erste mäzenatorische Tätigkeit von Eötvös war, noch während der Reform-Ära, die Aktivität im Pester Kunstverein, der nach Münchner Muster zustande kam.[5]
Danach kamen die schicksalhaften Ereignisse des Jahres 1848, die Eötvös gegen Ende September 1848 in seine freiwillige Emigration vertrieben. Eötvös verbrachte zwei Jahre seines Lebens in München und seiner Gegend.[6]
Am 9ten Oktober 1848 kam die Familie Eötvös und die Familie Trefort nach Passau, von dort sie mit einem Lohnkutscher in einem Omnibus, in drei Tagen, das ist am 12ten October nach München ankamen. Vom April 1849 bis zum Oktober des gleichen Jahres verweilten sie in Salzburg, das heißt, sie betraten wieder das Gebiet der Österreichischen Monarchie, und sie siedelten sich in der Stadt an, die der beliebte Aufenthaltsort der ungarischen Konservative war. Vom Oktober 1849 bis zum April 1850 wohnten sie in München und im April 1850 zog die Familie Eötvös mit den Kindern von Trefort nach Tutzing. Trefort und seine Frau machten inzwischen eine Rundfahrt in Europa, dann kehrten sie in München zurück. Trefort fuhr im September 1850 nach Ungarn heim. Wir haben auch davon Kenntnis, dass Eötvös im Sommer 1850 seinen Freund László Szalay in Zürich besuchte. Eötvös ist am 8. Dezember 1850 nach Pest angekommen.
In München und Umgebung lebte Eötvös im Haushalt seiner Schwester, Júlia Eötvös, die die Frau des Grafen Karl von Vieregg war. So wurde das Emigrantensein für Eötvös weder existentiell, noch intellektuell mit einem vollständigen Entwurzeltsein begleitet. Den in den Emigrantengruppen übrig gebliebenen „heimatlichen Parteigeist”, die in diesen Kreisen herrschende, „zum Irrationellen flüchtende” Massenpsychose lernte Eötvös nicht kennen.[7] Das deutschsprachige Milieu des Alltagslebens machte es für ihn reibungslos, diese Sprache – seine Muttersprache – als ein von ihm gewähltes neues Ausdrucksmittel seiner abhandelnden Prosa auch für sich selbst anzunehmen. Gleichzeitig wurde er – was von den Gliedern der Emigrantenkolonien in der Türkei, in Brüssel oder in London nicht festzustellen ist – aus seinen früheren politischen Beziehungen fast völlig herausgerissen, und das ermöglichte ihm, in seiner theoretischen Tätigkeit frei von allen persönlichen und taktischen Überlegungen, ausschließlich seiner eigenen Überzeugung zu folgen. Die Entfernung von den früheren politischen Freunden und Gegnern erlaubte ihm nicht, vor der Rechenschaft über die in der Emigration „vertändelte” Zeit in die Illusion eines, in seinem eigenen Kontinuum fortbestehenden politischen Handlungsortes zu fliehen: am Schreibtisch musste er von den Jahren Rechenschaft geben, die er weit von Ungarn verbracht hatte. In der Emigrationszeit hielt er die Beihilfe seines Schwagers Ágoston Trefort für nötig, um mit seiner deutschsprachigen Publizistik vor der Welt zu treten. Es wäre jedoch irreführend, von einem „Sprachverlieren” im Fall von Eötvös zu sprechen. Es handelt sich vielmehr darum, dass er sich mehr und mehr daran gewöhnte, die endgültige Fassung seiner Texte Freunden, Sekretären, Übersetzern, Herausgebern usw. usf. zu überlassen. Dies erklärt das Wie seiner manchmal ungalaublich produktiven schriftstellerischen Tätigkeit.
Um seine intellektuelle Rechtfertigung leisten zu können, arbeitete Eötvös in den Jahren 1849–1850 in der Bibliothek der Münchner Universität. Alle seine Bemühungen während dieser Zeit bezweckten die Beantwortung der Frage, in wie fern die Geschehnisse der Revolutionsjahre für logische Folgerungen allgemeiner Gesetze, die der europäischen Zivilisation, seiner Ansicht nach, ihre Richtung geben, zu halten sind. Obzwar in den persönlichen Verhältnissen von Eötvös die Emigration keinen dramatishen Wandel hineinbrachte, führte die Arbeitstherapie seiner ausstrapazierten Nerven zum Erreichen eines bevor völlig unbekannten Niveaus nicht nur in seiner denkerischen Entwicklung, sondern auch in der ganzen ungarischen Politikwissenschaft. Am Ende einer ganzen Reihe von deutschsprachigen Schriften (Zeugnisse seines Sprachwechsels in der Emigration) veröffentlichte er 1851–1854 die zwei Bände seines staatstheoretischen Hauptwerkes u.d.T. Der Einfluß der herrschenden Ideen des neunzehnten Jahrhunderts auf den Staat.[8]
Während der Fassung des Textes zwischen 1849 und 1853 adaptierte Eötvös seinen theoretischen Standpunkt nach und nach zu den politischen Ereignissen, die auf der europäischen politischen Bühne in einer raschen Abfolge nacheinanderkamen. Es ist der Konkretismus der Herrschenden Ideen, der für den Schlüssel des Werkes als Ganzen zu halten ist. Diese Einstellung, wie es u.a. Hermann Lübbe feststellte, kann als ein prinzipieller Charakterzug der deutschen politischen Philosophie nach der Hegelzeit betrachtet werden.
Auf der Oberfläche der Argumentation ist v.a. eine polemische Attitüde gegenüber den spekulativen Zügen der Hegel’schen Philosophie wahrzunehmen. In der Tiefe knüpfte Eötvös sich jedoch ans Hegel’sche Erbe an: Dieses widerspruchvolle Verhältnis war auch für die Nachfolger Hegels bzw. für die Anhänger des Positivismus im Allgemeinen charakteristisch. Was die Geschichtsphilosophie Hegels anbelangt, wurde das Eötvös’sche Bild der Geschichte von der Hegel’schen Auffassung stark beeinflusst. Im Gegensatz zu Rechtsehgelianern wie Rudolf Haym, Karl Rosenkranz oder David Friedrich Strauß, die sich von den französischen Junitagen 1848 verekelt abwendeten, wurde die teleologische Geschichtsauffassung bei Eötvös von den Ereignissen der Revolutionen 1848 nicht in Frage gestellt.
Das Werk von Eötvös hat keinen einheitlichen intellektuellen Kontext: Es ist unmöglich, es in eine bestimmte politisch-philosophische Problemgeschichte einzuordnen. Die Voraussetzungen und Grundbegriffe verschiedener Denktraditionen – der Experimentalwissenschaft, des Empirismus, des mechanistischen Weltbildes, des Historismus, des Szientizismus, des Positivismus oder des Hegelianismus – tauchen gemischt auf. Zweifelsohne war die Mischung wissenschaftlicher Perspektiven gewissermaßen ein allgemeiner Charakterzug in dem europäischen Diskurs gegen Mitte des 19. Jh. Die wesentliche Differenz zwischen Eötvös und seinen Zeitgenossen besteht darin, dass, während z.B. die Anhänger des Positivismus ihr antimetaphysisches erkenntnistheoretisches Programm nicht konsekvent durchführen konnten, Eötvös auf die augenfälligen Konflikte der verschiedenen philosophischen Schulen und Traditionen keine Rücksicht nahm.
In Bezug auf den Staat arbeitete Eötvös eine wissenschaftliche (physisch-mechanistische), eine rationale (politisch-philosophische) sowie eine kontextuelle (historisch-geopolitische) Beschreibung aus.
Bei der Durchführung seines wissenschaftlichen Forschungsprogramms ging Eötvös von der Lage der Baconforschung in der ersten Hälfte des 19. Jh. aus. Im Einklang mit ihr betrachtete er Bacon und sein Werk Novum Organon als den neuzeitlichen Bahnbrecher der induktiven Verallgemeinerung im Bereich Erfahrungserkenntnisse. Die Rezeption der Herrschenden Ideen wurde unmittelbar nach ihrer Publikation ungünstig beeinflusst davon, dass das Baconbild eben gegen 1855 grundsätzlich verändert wurde.
Für die Probleme, die die Revolutionen 1848 aufwarfen, fand Eötvös kein einheitliches Heilmittel. Darum verlegte er den Schwerpunkt seiner Fragestellungen auf eine allgemeine Überblicksanalyse der europäischen Geschichte. Eötvös erkannte jedoch nie an, dass er eben darum keine gemeinsame Panazee gefunden hat, weil die Bewegungen 1848 in den einzelnen Ländern Europas grundverschieden waren. Die Rechtfertigung des politiktheoretischen Unternehmens der Herrschenden Ideen wurzelt am tiefsten in der Überzeugung, dass 1848 selbst das gemeinsame Kriterium sei, auf Grund dessen die politische Entwicklung Frankreichs, Deutschlands, der österreichischen Monarchie (und teilweise auch Italiens) unter eine gemeinsame theoretische Anschauung geordnet werden konnte.
Die konkreten politischen Vorschläge, wegen deren die Herrschenden Ideen, sowohl von den Zeitgenossen als auch von den Forschern am meisten gewürdigt wurden, stellte Eötvös in einem doppelten theoretischen Kontext dar. Den breitesten Kontext bilden die wissenschaftlich-methodologischen Voraussetzungen. Die politischen Analysen wurden andererseits in den politisch-philosophischen Ideenzusammenhang eingebettet. Dieser Kontext dehnt sich in der Zeit weiter aus, als die unmittelbare politische Umgebung der Herrschenden Ideen: Eötvös reflektierte auch auf Themen, die bereits in der rationalen politischen Philosophie der Neuzeit sowie von den Publizisten der ersten französischen Revolution und der Restaurationszeit diskutiert wurden. Eötvös nahm die Fragen wieder auf, die von Mme de Staël, Benjamin Constant und Anderen aufgestellt wurden: Das Verhältnis zwischen Freiheit und Volkssouverainität, das Wesen der Freiheit der Alten und der Modernen, das Rätsel des Schließenkönnens der Revolutionen, die Problematik von Demokratie und Revolution, und die die Wege des friedlichen Zusammenlebens von freier Kirche in freiem Staat.
Bei der Wiederaufnahme dieser Fragestellungen adoptierte Eötvös den Blickwinkel der nachrevolutionären Schriften des französischen Exministers François Guizot. Eötvös vertrat jedoch eine Meinung, die bedeutend konservativere war, als die der französischen Liberalen: er legte die Doktrin der Volkssouverainität wider, und hielt die Demokratie für einen verwüstenden Flut, der auf jeden Preis unterdrückt werden müsse. Im zweiten Band der Herrschenden Ideen arbeitete Eötvös einen etwa modifizierten Standpunkt auf Grund der hegelianischen Ansichten von Lorenz von Stein aus.
In Hinsicht auf die wünschenswerten Eigenschaften der Regierenden nahm Eötvös keine bestimmte Stellung. Er meinte, die Aristokratie solle an der Regierungsgewalt teilnehmen: nicht wegen ihrer Talente oder ihres Vermögens, sondern wegen ihrer mäßigenden Rolle bei der Verteidigung der historischen Rechte. Die französische Aristokratie schien jedoch in ihrem ruinierten Zustand nicht im Stande zu sein, diese Aufgabe zu erfüllen. Deshalb akzeptierte Eötvös das erneute Aufkommen von absoluten Herrschern. Bei der Beurteilung der Demokratie nahm Eötvös einen weitgehend kritischeren Standpunkt ein, als die europäischen Liberalen im Allgemeinen. Während er die Theorien und die existierenden Institutionen der Gewaltenverteilung sowie die Staatsvertragstheorien verwarf, betrachtete Eötvös die Verstärkung der Munizipalität, die bei aller Regierungsformen möglich ist, als die einzige Garantie der Freiheit als „negative” Freiheit. Er erörterte nicht die Frage, wie und in wie ferne die Staatsgewalt (die Regierung, die politische Elite), die im Interesse ihres Fortbestehens und ihrer Stabilität von keinen institutionellen Gegengewichten beschränkt werden darf, gezwungen werden könnte, in der Sphäre der politischen Unterdrückung und der administrativen surveillance sich selbst zu mäßigen und zu kontrollieren.
Was die Revolution des Nationalismus betrifft, so konnte Eötvös keine andere Antwort auf diese Herausforderung formulieren als einen rhetorisch-erhabenen, utopistischen Aufruf zur Versöhnung der Nationen miteinander. Die Zukunftsaussichten, die Eötvös in dieser Hinsicht ankündigte, wurden von den tatsächlichen historischen Prozessen nicht gerechtfertigt. Eötvös setzte voraus, dass die nationalen Differenzen und Antagonismen allmählig verschwinden werden.
Es waren der Wiener Orientalist Joseph Hammer-Purgstall, Jacob Fallmerayer in München, Karl Mittermaier in Heidelberg, Friedrich von Raumer in Berlin und Joseph Radowitz in Erfurt, denen Eötvös den ersten Band seines Werks zuschickte. Radowitz war ein konservativer Abgeordneter im Frankfurter Parlament, der die deutsch-ungarische Annäherung 1848 unterstützte.[9] Die Rezeption des Buches war für Eötvös eine große Enttäuschung. Die größte Anerkennung erhielt er von Friedrich von Raumer, der ihm die Möglichkeit der Überarbeitung und Ergänzung seines eigenen Werks für die neue Ausgabe anbot.
Der 77jährige österreichische Orientalist, Joseph Hammer-Purgstall verdankte das Werk, fügte einige Bemerkungen den Fragen bei, die ihm nahe standen, und schlug Eötvös weitere Lektüre vor. Auch versprach er, dass er das Buch eingeweihteren Lesern weiterleiten werde.[10] Das Interesse des von den Magyaren sehr verehrten deutschen Kriminalisten, Karl Mittermaiers wurde von der Problematik des Wahlgesetzes in Deutschland erweckt.[11] Am Ende seines Briefes bat er Eötvös, ihm die neue ungarische strafrechtliche Literatur zuzusenden.[12] Friedrich von Raumer machte nach höflichen Loben unbedeutende kritische Bemerkungen und erwiderte das Buch Eötvös’ mit einem Beitrag von ihm zum römischen Staatsrecht, der übrigens einen verschiedenen Standpunkt angesichts der Frage der politischen Vertretung in Rom einnahm. Endlich schlug Raumer Eötvös vor, der junge ungarische Staatswissenschaftler möge sein Werk Über die geschichtliche Entwicklung von Recht, Staat und Politik für eine neue Ausgabe überarbeiten:
Mein Freund und Verleger Brockhaus wünscht eine neue Ausgabe meines Büchleins über Staat etc zu veranstalten. Ich fühle aber in meinem Alter dazu weder Kraft noch Lust. Theils mußte ich Studien machen (wie Sie es gethan haben), theils über Kollegen urtheilen, B. Mohl. Ihnen wird es ein Leichtes die Zusätze und Berichtigungen zu entwerfen, welche nöthig sind. Dieser Gedanke Ihnen jene Aufgabe abzutreten, sey ein Beweis wie sehr ich Ihr verhehre und wie aufrichtig meine Beifall ist. [13]
Der preußische Staatsmann und politische Schriftsteller Joseph von Radowitz beeilte sich, den Brief von Eötvös vom 12ten August 1851 zu beantworten. Dafür blätterte er das Buch nur oberflächlich durch. In seinem kurz gefassten Brief skizzierte er seine Ansichten über das Wesen des Staats, das im günstigen Fall mit den Gottesgesetzen im Einklang sein solle. Aus dieser Perspektive sei, Radowitz zufolge, die Staatsform nur eine akzidente: „Hiefür giebt es keine Schemata, weder rationelle noch experimentelle”. Ferner lehnte er den Standpunkt Eötvös’ in Bezug auf die Idee der Nationalität ab, sagend, dass angesichts des Abschließens der Revolutionen „[n]icht in dem Ziele, sondern in dem Wege dazu, in dessen wichtiger Wahl die einzige Möglichkeit liegt”.[14]
Der Gymnasiallehrer und Byzantinolog Jacob Fallmerayer nannte Eötvös in seinem Brief vom 14ten Oktober 1851 „Montesquieu im 19. Jahrhundert”. Freilich kopierte Fallmerayer im Brief das Inserat, das er in der Augsburer Allgemeinen Zeitung veröffentlichen wollte, wie davon die Rede von Eötvös in dritter Person und andere stilistischen Züge zeugen. Die Anzeige wurde im Blatt nie publiziert.[15] Fallmerayer gab seine Rezension über die Herrschenden Ideen 1852 und 1855 im Deutschen Museum aus.[16] Er wies anerkennend darauf hin, dass, obwohl gegen die Struktur und gewisse Details des Werks Kritik formuliert werden könne, es für eine verblüffende Tatsache zu halten sei, dass unter ungünstigen Verhältnissen „ein Geistesproduct von solcher Reife und von so viel männlicher Tüchtigkeit zum Vorschein kommen konnte”. Fallmerayer akzeptierte die Selbstinterpretation des Verfassers, in dessem Sinne der erste Band eine ärztliche Diagnose sei. Er war der Ansicht, dass die Unruhe, die die Revolutionen 1848 verursachten, nach wie vor in den Köpfen herrschen: Eötvös war der erste, der eine Therapie unternommen hatte. Obzwar Fallmerayer mit Einstimmung die grundsätzlichen Behauptungen des Werks zitierte, gab er Stimme auch seinen Zweifeln in Hinsicht aufs Ganze des Unternehmens:
seine Zuversicht, den tief eingefressenen Zwiespalt der Zeit durch Aufstellung einer neuen Wissenschaftsformel thatsächlich zu heben scheint uns beinahe märchenhaft. Hat denn die Vernunft heute eine größere Macht über die menschliche Leidenschaft als in der Vergangenheit? … Beweist uns Hr. v. Eötvös in seinem zweiten Bande das Gegentheil, so ist er ein Wiederhersteller Europa’s und hält Hüon’s Wunderhorn in seiner Hand.
Im Artikel von 1855, der den inzwischen erschienenen zweiten Band rezensierte, hob Fallmerayer hervor, dass der französische coup d’État das Eötvös’sche Prophezeihen rechtfertigte. Er sah die grundsätzliche Zielsetzung des zweiten Bands darin, zwei widersprechenden Herausforderungen in Einklang zu bringen: der der starken Staatsgewalt und der individuellen Freiheit. Ihm zufolge verwarf Eötvös das französische Modell und sah er die einzige Lösung in der Institution des von den Engländern verleihten Selfgovernments.
Trotz dieser anerkennenden Tendenz ist die Konklusion Fallmerayers zweifelsohne ironisch: die Theorie Eötvös’ wäre nur dann eine wunderschöne, wenn die Bevölkerung Europas aus der Erde gelöscht würde und neue Gesellschaften entstehen würden. Für die jetzigen Völkerschaften, die selbig sind und der Selbsterkenntnis entbehren, scheint es kaum anreizend zu sein, „am Gängelbande der Philosophie auf ihre theuersten Angewöhnungen” zu verzichten.[17]
Auch diese unvollständige Anerkennung des Eötvös’schen Werks hatte vom Standpunkt der Förderung des wissenscahftlichen Tausches zwischen Ungarn und Deutschland ihre Früchte getragen. Aufgrund seiner persönlichen Kontakte konnte Eötvös später für Orientierung und Emfpehlung ungarischer Nachwuchswissenscahfter an deutschen Universitäten (in Heidelberg, Berlin oder München) mitwirken. Wie es nur möglich war, bestrebte er die Hilfsbereitschaft der deutschen Gelehrten mit Gefälligkeiten zu erwidern. Mehrere von seinen deutschen Bekannten wurden zum Ehrenmitglied der Ungarischen Akademie der Wissenschaften gewählt. Er empfing den Besuch Theodor Mommsens und Karl Theodor Welckers gegen Ende der 1850er Jahre in Ungarn.[18]
Nicht nur die Deutschlandsreisen ungarischer Studenten förderte Eötvös in der Nachrevolutionsperiode, sondern er war auch bemüht, um anderen Emigranten, deren Anwesenheit und wissenschaftliche Autorität das ungarische akademische Leben sehr entbehrte, eine Amnestie bei dem Kaiser Franz Joseph I zu erhalten. So durften v.a. seine Freunde und Kollegen, die Geschichtswissenschaftler Mihály Horváth und László Szalay nach einer langen Emigrationszeit aus der Schweiz heimkehren. Beide haben mit grundsätzlichen historischen Werken zur Emanzipation der ungarischen Geschichtswissenschaft beigetragen.
Seine Mäzenatur umfasste das ganze Spektrum der Wissenscahften und Künste in Ungarn. So beförderte er z.B. die Studien von jungen Wissenschaftlern jüdischer Herkunft: dem Orientalisten Ármin Vámbéry, dem Sprachwissenschaftler Mór Ballagi, oder dem Pädagogen Mór Kármán. Kármán wurde am Herbst 1869 nach Leipzig zugeschickt, um die praktische Ausbildung der Lehrer im Seminarium Tuiskon Zillers zu studieren. Mit Ziller konnte er ziemlich gute Arbeitskontakte ausbauen.[19]
Für diese jungen Fachmänner war der Deutschlandsaufenthalt eben ein mächtiges Mittel zur Verstärkung ihrer ungarischen Identität. In der Ära des neuen Absolutismus (1850–1867), als es an staatliche Mäzenatur mangelte, bedeckte Eötvös die Kosten dieser Studien mittels Privatwohltätigkeit. Er persönlich bemühte sich, um das versammelte Geld nach Deutschland nachzuschicken. Mehreren herausragenden Künstlern sicherte Eötvös Stipendium zwecks Studienreise nach Ausland: Bertalan Székely, Mihály Munkácsy, Gyula Benczur, Géza Mészöly und László Páll.[20]
Nicht nur für junge ungarische Künstler und Wissenschaftler sollte die Studienreise nach Deutschland die Vollendung der Studienjahre bilden, sondern auch die Modernisierung des ganzen ungarischen Schulwesens und Bildungssystems – vom Ministerium von Eötvös bis zur Erziehungskonzeption des Grafen Kuno Klebelsberg – wurde nach preußischem Muster konzipiert und ausgeführt. Hochleistungen der Kreativität von Wissenschaftler ungarischer Stammung, wie z.B. das Lebenswerk von Theodor Kármán, konnten nach Studienjahren an deutschen Universitäten zustande kommen.[21] Auch die Gestaltung der Széchényi Nationalbibliothek in Ungarn wurde nach detuschem Muster erledigt, und zwar unter dem Ministerium von Eötvös.
Gleichzeitig hat jedoch Eötvös den intellektuellen Horizont seiner Protégés und die Grenzen dieser Studien im Voraus vorgesteckt. Bei den Mahlern und Bildhauern, die in München studierten, empfahl er z.B. das Erlernen der Kunstgriffe des Historismus aufs wärmste; darüber hinaus verbot er seinem Sohn Loránd, der seine Lehrjahre in dem höchst angenehmen Heidelberger und dem weniger libertinischen Königsberger Coetus verbrachte, die neueren Strömungen der deutschen Physik zu studieren. Diese Tendenzen hielt der Vater für nichts mehr als leere Metaphysik:
Du kennst meine Ansichten über die Richtung, der durch einen Teil deutscher Wissenschaftler in den Naturwissenscahften gefolgt wird. Sie führt die Physik immer und immer in der Kreis der Metaphysik. Im Allgemeinen halte ich diese Tendenz für unfrüchtig, und ich bin überzeugt davon, dass wie bis jetzt, so auch noch lange Zeit die Naturwissenschaften ihre Entwicklung meistens auf dem Gebiet der Induktion und des Experiments leisten werden.[22]
Die angeführten drei Namen und ihr Werk repräsentierten Eötvös die höchste Form des Wissens von Gott, Natur und Mensch. Er hielt die Analogie zwischen Mikro- und Markokosmos für maßgebend: die Gesetze des ersteren werden von den der letzteren erklärt und umgekehrt. Der Standpunkt, den Eötvös seinem Sohn, dem künftigen Physiker, vorschlug, war ein defensiver. Je mehr bestand er auf der Newtonischen Ordnung, desto offensichtlicher es wurde, dass „die in der Physik spürbare Harmonie, das mehr und mehr zum Herrschenden werdende Vollständigkeitsgefühl nicht wahr, sondern falsch und unbegründet ist”.[26]
Die Gedanken können daher gewissermaßen als Gegenpunkt der von einem unbegrenzten wissenschaftlichen Optimismus zeugenden Herrschenden Ideen betrachtet werden. Wurde das Newtonische Prinzip im großen staatsphilosphischen Werk in der Metapher der Dynamik der entgegengesetzten Kräfte ausgedrückt und auf die Welt von Politik und Gesellschaft projiziert, so ist das physische Weltbild der Gedanken das einer in stetigem Gleichgewicht seienden Welt, deren Enthropie die immer sich erneuenden Bestrebungen des menschlichen Fortschritts unerbittlich ausbalanciert und auf die Schranken des Menschen aufmerksam macht. Die konservativen Elemente des Weltbildes von Eötvös in naturwissenschaftlicher und politischer Hinsicht sind daher in engem Zusammenhang:
Je schwächer wir uns angesichts anderer nichtmenschlicher Kräfte fühlen, desto mehr suchen wir unseren Trost in dem Bewußtsein, daß unser Loos ein allen Menschen gemeinsames ist. Daher kommt es auch, daß die Verbreitung der Naturwissenschaften den demokratischen Grundsätzen so günstig ist. .[27]
Den Hauptzweck der Emigration der ungarischen kulturellen und wissenschaftlichen Elite nach Deutschland bildete die Erwerbung der Elemente eines nicht mehr protestantisch-konfessionellen, sondern weltlichen, laienhaften Wissens, und zwar auf der Ebene der Politikwissenschaften, der Pädagogie, der bildenden Künste und der Naturwissenscahften. Dieses erworbene Wissen stand jedoch nicht im Dienste der Vermehrung der autonomen Künste und Wissenschaften, sondern es wurde im Interesse der Sonderzwecke Ungarns inmitten der dualistischen Monarchie instrumentalisiert. Ein gutes Beispiel dafür ist Bertalan Székely und seine Malerei im Zeichen des Historismus.
Die Tendenzen der Jahrundertwende nahmen eine andere Richtung: gerade jene jungen Intellektuellen wollten nach Deutschland emigrieren, die vor der frustrierenden Athmosphere der Österreichisch-Ungarischen Monarchie flüchteten. Diese Emigrationswelle wurde nach dem Zusammenbruch der Monarchie noch verstärkt:
Da sie nach den politischen Veränderungen der Jahre 1917–1921 nicht mehr die Möglichkeit hatten, in die Vereinigten Staaten zu gehen, begannen kleine Gruppen von intellektuell begabten Ungarn, die häufig jüdischer Abstammung waren, in die deutschsprachigen Länder Europas auszuwandern. Das bedeutete nicht nur Deutschland, sondern auch […] Deutschösterreich und sogar die Tschechoslovakei mit ihren namhaften Universitäten Prag und Brünn.[28]
In Bezug auf das Nachleben Eötvös’ und der Eötvös’schen Bestrebungen zwecks Rezipierung der Errungenschaften der deuschen Wissenschaft und Kultur in Ungarn lässt sich eine paradoxe Konsequenz feststellen. Aufgrund des deutschen Musters beförderte Eötvös zweifelsohne die Verstärkung und die Emanzipation der Künste und Wissenscahften in Ungarn auf grundsätzlicher Weise. Die junge Intelligenz der Jahrhundertwende und der Zwischenkriegsperiode wählte jedoch das Exil – ihrerseits auch die Emigration nach Deutschland – eben darum, weil die Mitglieder dieser Generation gegen jene institutionelle Struktur und wissenschaftliche Ansätze revoltierten, die auf Grund der Bestrebungen des Freiherrn József Eötvös zustande kamen.
[1] TAR, Attila: Magyarországi diákok németországi egyetemeken és főiskolákon 1694–1789 – Ungarländische Studenten an den deutschen Universitäten und Hochschulen 1694–1789. Budapest: ELTE Levéltára, 2004.
[2] EÖTVÖS József: Levelek [Briefe]. Hg. und mit einem Vorwort versehen von OLTVÁNYI, Ambrus. Budapest: Magyar Helikon, 1976, S. 65. Ist der Name des Übersetzers nicht angegeben, so stammt die Übersetzung von mir. G. G.
[3] Zit. nach DEVESCOVI, Balázs: Eötvös József (1813–1871). Pozsony: Kalligram, 2007, S. 282.
[4] GOROVE, István: Nyugot. Utazás külföldön [West. Reise im Ausland]. I–II. Bde. Pest: Heckenast, 1844, Bd. I, S. 212f.
[5] FENYŐ, István: A centralisták. Egy liberális csoport a reformkori Magyarországon [Die Zentralisten. Eine liberale Gruppierung im Ungarn der Reform-Ära]. Budapest: Argumentum, 1997, S. 142ff.
[6] GÁNGÓ, Gábor: Joseph Freiherr Eötvös in Bayern, September 1848–Dezember 1850. In: ADRIÁNYI, Gabriel – GLASSL, Horst – VÖLKL, Ekkehard (Hg.): Ungarn-Jahrbuch. Bd 24 (1998/1999), München: Verlag Ungarisches Institut, 2000, S. 205–222.
[7] Zur Psychose der Emigranten vgl. FRANK, Tibor: From Habsburg Agent to Victorian Scholar: G. G. Zerffi 1820–1892. Transl. by SULLIVAN, Christopher and FRANK, Tibor. New York: Boulder, 2000, S. 136f.
[8] EÖTVÖS, József: Der Einfluß der herrschenden Ideen des 19. Jahrhunderts auf den Staat. I–II. Bde. Leipzig: Brockhaus, 1851–1854.
[9] GERGELY, András: 1848-ban hogy is volt? Tanulmányok Magyarország és Közép-Európa 1848—49-es történetéből [Wie war es eigentlich 1848? Studien zur Geschichte Ungarns und Zentraleuropas in den Jahren 1848–1849]. Budapest: Osiris, 2001, S. 22.
[10] Joseph HAMMER-PURGSTALL an József EÖTVÖS, Heinfeld, 14 September 1851. Széchényi Nationalbibliothek Budapest, Handschriftensammlung, Briefekollektion. (Im Folgenden: OSzK Kt. Lev.)
[11] EÖTVÖS, Herrschende Ideen, Bd. I, S. 180ff.
[12] Karl MITTERMAIER an József EÖTVÖS, Heidelberg, 6 November 1851. OSzK Kt. Lev. Vgl. CONCHA, Győző: Báró Eötvös József állambölcselete és a külföldi kritika. [Die Staatsphilosophie von József Eötvös und die ausländische Kritik]. Budapest: Athenaeum, 1908, S. 12.[13] Friedrich VON RAUMER an József EÖTVÖS, Berlin, 24 Oktober 1851. OSzK Kt. Lev.
[14] Joseph RADOWITZ an József EÖTVÖS, Erfurt, 12 September 1851. OSzK Kt. Lev. Vgl. CONCHA, Eötvös állambölcselete, S. 15ff.; MEINECKE, Friedrich: Radowitz und die deutsche Revolution. Berlin: Ernst Siegfried Mittler und Sohn, 1903, S. 523ff.; Gergely, 1848-ban hogy is volt, S. 22.
[15] Jacob FALLMERAYER an József EÖTVÖS, München, 14 Oktober 1851. OSzK Kt. Lev. Vgl. CONCHA, Eötvös állambölcselete, S. 19..
[16] Ebd., S. 24ff.
[17] FALLMERAYR, Jakob Philipp: Gegenwart und Zukunft. Zur Kritik des modernen Staatslebens mit Rücksicht auf Eötvös: der Einfluß der herrschenden Ideen des neunzehnten Jahrhunderts auf den Staat. In: DERS.: Politische und culturhistorische Aufsätze. (Gesammelte Werke von Jakob Philipp FALLMERAYR. 2. Bd.) Leipzig: Eilhelm Engelmann, 1861, S. 195–222, hier: S. 197f., 200f., 205, 207, 210f., 213f., 219, 222.
[18] József EÖTVÖS an W. HENZER, Pest, Anfang 1858?, OSzK Kt. Lev.; FERENCZI, Zoltán: Báró Eötvös József 1813–1871 [Freiherr József von Eötvös 1813–1871]. Budapest: MTA, 1903, S. 194.
[19] HORVÁTH, Lászó: Százötven éve született Kármán Mór [Zum 150. Geburtstag Mór Kármáns]. In: Pedagógiai Műhely (Nyíregyháza) [Pädagogische Werkstatt (Nyíregyháza)], Februar 1993, S. 48–51.
[20] MANN, Miklós: Eötvös és Pauler: Az első kultuszminiszterek a dualizmus korában [Eötvös und Pauler: die ersten Kultusminister in der Ära des Dualismus]. In: Tanárképzés és tudomány [Lehrerausbildung und Wissenschaft]. Bd 7. Budapest, 1992, S. 4–36, hier: S. 21 f.
[21] Die mit Anspruch auf Vollständigkeit bereits aufbearbeiteten Detailfragen der ungarischen Peregrination nach Deutschland bzw. die Kontakte im Bereich der Naturwissenschaft und Technik können hier nicht erörtert werden. Aus dem deutschsprachigen Schrifttum siehe u.a. SZÖGI, László: Magyarországi diákok németországi egyetemeken és főiskolákon 1789–1919 – Ungarländische Studenten an den deutschen Universitäten und Hochschulen 1789–1919, Budapest: ELTE Levéltára, 2001; DERS.: Haupttendenzen und –wirkungen der ungarischen Peregrination nach Deutschland. In: FISCHER, Holger (Hg.): Wissenschaftsbeziehungen und ihr Beitrag zur Modernisierung. Das deutsch-ungarische Beispiel. München: Oldenbourg, 2005, S. 29–74; DERS.: Studenten aus Ungarn und Siebenbürgen an den deutschen Universitäten 1789–1919. In: FATA, Márta – KURUCZ, Gyula – SCHINDLING, Anton (Hg.): Peregrinatio Hungarica. Studenten aus Ungarn an deutschen und österreichischen Hochschulen vom 16. bis zum 20. Jahrhundert. Stuttgart: Steiner, 2006, S. 387–408.
[22] EÖTVÖS József levelei fiához, Eötvös Lorándhoz [József Eötvös’ Briefe an seinem Sohn Loránd]. Hg. von BENEDEK, Mihály. Budapest: Szépirodalmi, 1988, S. 57.
[23] EÖTVÖS, Josef Freiherr von: Gedanken. 3. Aufl. Wien–Pest–Leipzig: Hartleben, 1878 (Gesammelte Werke von Josef Freiherrn VON EÖTVÖS. Aus dem Ungarischen übersetzt. Bd 6), S. 118.
[24] Ebd.
[25] Ebd, S. 119.
[26] BODÓ, Barna A fizika magyar fejedelme [Der ungarische Fürst der Physik]. In: EÖTVÖS, Loránd: Tudományos és művelődéspolitikai írásaiból [Aus den wissenschaftlichen und Kulturpolitischen Schriften]. Hg. und mit einem Vorwort versehen von BODÓ, Barna. Bukarest: Kriterion, 1980, S. 5–52, hier: S. 13.
[27] EÖTVÖS, Gedanken, S. 179.
[28] FRANK, Tibor: Jahrgang 1900. Die Auswanderung ungarischer Intellektueller nach dem Ersten Weltkrieg. In: HOPFINGER, Helga (Hg.): Jolán Gross-Bettelheim 1900–1972. Passau: Museum Moderner Kunst, 1996, S. 75–86, hier S. 78f.