Ana [1]
für Barbara, deshalb
recebido em 01/09/2010 e aceito em 11/09/2010
Eines Abends erschien die Schlangenfrau des Zirkus Garcia nicht zur Vorstellung. Sie blieb alleine in ihrem Wohnwagen, denn sie hörte Stimmen und fühlte sich sehr unwohl, hatte stechende Kopfschmerzen und hustete pausenlos. So ging es in den nächsten Tagen weiter und auch ihre Nase lief ständig, was sowohl ihrem Chef Wally Garcia, dem Zauberer mit dem Zylinder, als auch ihrem Mann Los Angeles dos Anjos, dem Messerwerfer, Sorgen bereitete. Nachdem sie zwei Wochen lang der Manege fern geblieben war, nieste die Schlangenfrau des Zirkus Garcia kräftig und fühlte, dass etwas aus ihrem linken Nasenloch entglitt. Als sie die Augen öffnete (wir erinnern daran, dass es unmöglich ist, mit offenen Augen zu niesen), sah sie plötzlich einen kleinen Homunkulus von etwa fünfzehn Zentimetern, schleimbedeckt, der auf dem Boden saß und sie anlächelte. Im gleichen Moment hörten die Stimmen, die stechenden Schmerzen im Kopf, der Husten, die tropfende Nase und die Raserei der Gebärmutter, von der wir noch gar nicht gesprochen haben und von der wir auch gar nicht sprechen werden, auf, denn dies ist für das Leben von Eduardo, wie der Homunkulus getauft wurde, nicht von Interesse.
Für jemanden, der nicht geboren wurde, sondern erschienen ist, hatte Eduardo eine schwierige Kindheit, obwohl er schon als Erwachsener auf die Welt kam. Gerüchte über die wunderbare Geschichte seiner Geburt begleiteten die Truppe des Zirkus Garcia, wohin auch immer sie reiste, was eine gewisse Habgier in Wally Garcia und seinem Zylinder weckte. Eduardo, der Sohn der Schlangenfrau, wurde damals in dem kleinen Zelt mit den Aberrationen, das man gewöhnlich neben dem Zirkus errichtete, ausgestellt. Er wurde Tag und Nacht beobachtet, was ihn sehr störte, besonders, wenn ihn jemand mit süßem Popcorn bewarf. Nach einiger Zeit wurde er dieser Behandlung müde und er entschloss sich zu fliehen. Er zog einem Maiskolben seine kleinen Kleider an, die von Carolina, der Bartfrau, mit Liebe angefertigt worden waren, und entwischte unter der Zeltplane hindurch. Ein halbes Jahrzehnt danach geschah ein Brand im Zirkus Garcia und die Schlangenfrau war eines der Todesopfer, aber das ergibt weder Sinn noch steht es in Zusammenhang mit Eduardo, der zu diesem Zeitpunkt gegen seinen Willen in einem äußerst keimfreien Labor lebte.
Dr. Krleza vertrat eine interessante Theorie über den Wahnsinn, die auf seiner Überzeugung gründete, dass die Luft nicht nur voller Bazillen war und einem Füllhorn von Tierchen glich, sondern auch mit Homunkulen bevölkert war, die durch Zufall eingeatmet werden könnten und sich kurz darauf im Gehirn von bisher ganz normalen Leuten einquartieren, ihre Gedanken teilten und so Delirien, poetische Berufungen und andere geistige Erkrankungen verursachten. Obwohl nicht mikroskopisch klein, war Eduardo der empirische Beweis, den er brauchte, um die Existenz von geheimnisvollen Homunkulen endgültig nachzuweisen. Aber – was für ein Unglück – beide haben sich niemals kennen gelernt und noch nicht einmal voneinander gehört, wahrscheinlich, weil Dr. Krleza in Kroatien wohnte und Eduardo in Brasilien, genauer gesagt in einer Stadt, die überhaupt keine Relevanz für diese Erzählung hat. Was für uns zählt, ist, dass Eduardo, nachdem er sich einige Zeit nach seiner Flucht in der Welt herumgetrieben hatte, zu dem Schluss kam, dass dieses Leben zu gefährlich sei für jemanden, der weniger als drei Spannen groß war, und er ließ sich von einer aus Überzeugung ledigen Pathologin, die süchtig nach Arbeit und Lachgas war, adoptieren. Diese immer in Weiß gekleidete Frau, die ständig roten Lippenstift trug und regelmäßig ihre Nägel kurz schnitt, wohnte in einem Appartament neben ihrem Untersuchungslabor und verbrachte einen Großteil ihres Tages am Mikroskop, wobei sie pausenlos lachte und die damaligen achtzehn Zentimeter unseres Homunkulus für eine bestimmte schlüpfrige Tätigkeit benutzte, für deren detaillierte Beschreibung wir weder Kompetenz noch Gewandtheit oder Schamlosigkeit besitzen.
Diese Zeit – was für eine Feuchtigkeit, was für ein Geruch, was für eine Trägheit! – hatte großen Einfluss auf die schlechte Laune Eduardos, die ihn befiel, als er eine Körpergröße von zwanzig Zentimetern erreichte, einige Wochen, nachdem er seine unfreiwilligen Funktionen im Labor hinter sich gelassen hatte. Er wohnte jetzt im Service-Bereich eines Einkaufszentrums, in dem er sogar einen Job als Gehilfe des Weihnachtsmanns gefunden hatte. Die Kinder und ihre Eltern vermuteten, er sei ein sehr realistisch wirkender kleiner Automat, und füllten den Raum mit aufgeregten Bewunderungsrufen. In den Pausen, fernab von den Kunden, trank der Weihnachtsmann ein wenig Rum aus seiner kleinen Metallflasche und teilte mit Eduardo sein seltsames Vergnügen, die Tage mit kleinen Kindern auf dem Schoß verbringen zu dürfen.
Die Aufgaben als Gehilfe des Weinachtsmanns langweilten Eduardo, denn sie errinnerten ihn an seine Zeit im Zelt der Aberrationen, bis zu dem Abend, der eigentlich so war wie alle Abende. Eine Frau, die in der Schlange des Weinachtsmanns stand und ihren Sohn an der Hand hielt, nieste kräftig und mit offenem Mund und versprühte Rotz- und Speicheltropfen nach allen Seiten. Außerdem warf sie auch eine winzige, lächelnde, zehn Zentimeter große Frau vor die Füße des Weinachtsmanns. Als er sie so sah, bedeckt von glänzendem Schleim, wurde Eduardo von solcher Freude erfüllt, dass er anzuschwellen begann. Er wurde so rund wie ein Kugelfisch, bis er zuletzt zum Erstaunen der Besucher, die die neuerschienende kleine Frau nicht mehr beachteten, durch das Einkaufszentrum schwebte. Irgendwann erreichte Eduardos Freude einen Punkt, an dem sein kleiner Körper, der die Grenzen der Expansion erreicht hatte, geräuschlos explodierte und seine winzigen Teilchen langsam wie Pulverschnee auf den Weinachtsschmuck des Einkaufszentrums nieder rieselten.
In den obigen Zeilen haben wir Eduardo in Erinnerung gebracht, aber eigentlich hätten wir gerne Anas Geschichte erzählt, die ganz normal durch eine Vagina nach ruhigen neun Monaten Schwangerschaft geboren wurde, ein rundes und lockiges Baby war und sich im Alter von neun Jahren den Arm brach, sich aber gut erholte und nie schwimmen lernte, ein glückliches Mädchen war und fast einen Meter fünfundsechzig groß wurde und den schönen und guten Gabriel heiratete, der sie nie betrog und mit dem sie drei gehorsame Kinder hatte, die ins Ausland zogen und ihr keine Enkelkinder schenkten, die als alte Dame an einem späten Nachmittag im Frühling starb, als sie sich nach einer Tasse Tee, zu der sie Ingwer-Kekse aß und in einer Zeitschrift blätterte, hingelegt hatte. Aber sie wurde tot geboren, das arme Ding, und daher können wir nichts von ihr erzählen.
[1] PELLIZZARI, Daniel. Ana. In: ____. O Livro das cousas que acontecem. Porto Alegre: Livros do Mal, 2002, p. 31-37.